Oft sind Geschichten so kompliziert, dass sie die handelnden Personen erst nach Jahrzehnten begreifen. Sommer wie Winter ist eine teuflisch verdrängte Familiengeschichte aus einem touristisch hochgefahrenen ehemaligen Tiroler Bauerndorf. Nicht nur die Jahreszeiten sind im Tourismus mittlerweile verschwunden, indem zwischen Sommer und Winter kein Unterschied mehr gemacht wird, auch in der privaten Sphäre gibt es kaum noch einen Unterschied zwischen vorgespielten Sommer-Verhältnissen und der Kälte der Winter-Realität. In Judith Taschlers Roman heißen die Beteiligten Sommer und Winter. Offensichtlich ist ein schweres Unglück passiert, denn die Figuren sind alle in psychologischer Betreuung. Aus den Therapiegesprächen wird so die Geschichte rekonstruiert und wenn möglich repariert. Wie ein Virenscanner läuft der Psychologe über die wunden und infizierten Seelen der Familienmitglieder, die Hauptfigur heißt vorerst Alexander Sommer, aber er wird schließlich adoptiert und nennt sich wie der Rest der Familie Winter. "Aus dem Sommer wird jetzt ein Winter."(168) Der Leser wird in Therapiestunden in eine seltsame Familienstruktur eingeführt. Im Dorf haben es die Protagonisten zu einem passablen Hotel gebracht, das aber kurz vor der Verpfändung steht. Der Sohn ist adoptiert, weil offiziell der Vater einen Sohn haben wollte. In Wirklichkeit wollte er nur das Kind versorgen, mit dessen Mutter er ein verstecktes Verhältnis gehabt hat. Die leibliche Mutter gilt offiziell als ausgewandert und verschollen. Allmählich kristallisiert sich heraus, dass hinter den Wechselbädern der Gefühle ein handfester Kriminal-Plot versteckt ist. Ein väterlicher Polizist bringt schließlich einen lang zurückliegenden Fall ins Rollen. Am Ende der Therapie sind alle aufgeklärt und die Figuren versuchen in ein geordnetes Leben zu wechseln. Judith W. Taschler erzählt eine Familiengeschichte als Kriminalfall mit überraschenden Wendungen. Als Bühne dient einerseits das prosperierende Tourismusleben im Tiroler Gebirge, andererseits die heile Familienwelt, in der die Protagonisten keusch und heilig wie Krippenfiguren aufgestellt sind. Unter dieser schönen Welt sind freilich alle Beteiligten angeknackst, zerbrochen oder verschwunden. Alles, was man in die Hand nimmt und umdreht, gibt schreckliche Dinge frei, wie auch die Wörter, in der Therapie in den Mund genommen, letztlich eine schreckliche Geschichte frei legen. Sommer wie Winter ist eine aufregende Familiengeschichte, in der die verdrängten Verhältnisse in heftigen Rucken zum Vorschein kommen. So spielt es sich wohl täglich zig-fach ab zwischen Sölden und Innsbruck, den Hauptorten des Dramas. - Eine kluge Erzählform, um die ewige Tragödie eines scheinheiligen Lebens in den Alpen zu erzählen. Helmuth Schönauer
Medium erhältlich in:
9 Bücherinsel St. Donatus,
Aachen
Personen: Taschler, Judith W.
Taschler, Judith W.:
Sommer wie Winter : Roman / Judith W. Taschler. - Wien : Picus-Verl., 2011. - 199 S.
ISBN 978-3-85452-671-1 fest geb. : ca. Eur 19,90
Schöne Literatur - Signatur: Tasch - Buch