Die Esterhazys - das ist eigentlich eine bedeutende ungarische Magnatenfamilie, aber der Anlang an das deutsche "Osterhase" ist durchaus gewollt. Die Esterhazys lassen sich historisch bis in das 13. Jahrhundert zurückverfolgen, und wie es so bei vielen alten Adelshäusern ist, sind die Nachkommen der Familie in jeder Generation ein bisschen degenerierter. So auch in dem Bilderbuch. Hier sind die Esterhazys wahrscheinlich die größte Familie Österreichs, aber sie selbst werden immer winziger (wenngleich sie sehr sehr intelligent sind), "weil sie leider nie genug Salat und Karotten aßen, sondern fast nur Pralinen und Torten, Bonbons und Strudel." Die Esterhazys sind nämlich Hasen in diesem Bilderbuch. Als dann eines Tages der Jüngste von ihnen in einen Papierkorb fällt und nicht mehr allein herauskommt, trifft der Großvater eine weise Entscheidung: In die Welt hinaus sollen die Enkel, sich dort Frauen suchen, die groß und stark sind und nicht unbedingt von Adel. Und eben der Jüngste von ihnen, einfach nur "Esterhazy" genannt, soll sein Glück in Berlin versuchen. "Und noch etwas", fügte er [der Großvater Esterhazys] hinzu, "die Berliner Hasen wohnen alle hinter einer großen Mauer, der Himmel weiß, warum." Esterhazy fährt los, nimmt den Zug und kommt am Bahnhof Zoo an. Der Bahnhof kam ihm ziemlich schäbig und düster vor, und es war sehr kalt. Sonderbare Leute standen da herum. Sie warfen einander böse Blicke zu, und es gefiel Esterhazy gar nicht, wie hungrig sie dreinblickten. Und spätestens an dieser Stelle erkennt der Leser, dass nicht nur das Autorenteam Dische/Enzensberger eine kongeniale Verbindung ist, sondern als Dritter im Bunde der Illustrator Michael Sowa das Buch auch optisch zur Perfektion führt. Eigentlich sind es gar keine Bilder, die in ein Bilderbuch gehören, trübe, dunkle Farben, allerlei Braun- und Ockertöne verlocken Kinder nicht direkt zum Hinschauen - aber die Erwachsenen! Und hier kommt erstmals der Verdacht auf: ein Bilderbuch vielleicht, das direkt für Erwachsene geschrieben und illustriert wurde? Die Welt jedenfalls, die Michael Sowa zeichnet, ist so, wie sie wirklich ist, das Zugabteil, das Wohnzimmer, der trostlose Bahnhof. Alles ist voller eiliger großer Menschen und zwischen ihnen der sehr kleine Hase Esterhazy. Aber der Hund, der ihn anglotzt und anbellt, trägt die Uniform des Wachmanns, und er passt in die trostlose Stadt, in der die Menschen mit gewichtigen Aktentaschen, übergewichtig, unfreundlich, mürrisch verkniffen, umher hasten. Da liegt Dreck auf den Böden und die Neonröhren spenden mehr Dunkelheit als Licht, lassen die Ungemütlichkeit ebenso zum Zuge kommen wie das altbacken eingerichtete Wohnzimmer und das biedere Badezimmer. In den Straßen sammelt sich das Wasser zu trüben Pfützen im Rinnstein. Nur eine Stelle ist schön (für Hasen), so hört er überall, die Mauer, "eine endlos lange graue Mauer, und die Wiese vor der Mauer roch wunderbar. Sie roch nach Hasen." Leider gelingt es Esterhazy nicht, jemals zu dieser wunderbaren Mauer zu kommen. Dafür hat er allerlei Erlebnisse, die er nicht recht verstehen kann, lernt die Häsin Mimi kennen und verliebt sich in sie, spielt kurzfristig die Rolle des Osterhasen, bis er nicht mehr gebraucht wird, und landet schließlich in einer Familie mit Kindern. Dort muss er in einer Kiste wohnen, die mit alten Zeitungen ausgestopft ist, und Esterhazy beginnt zu lesen. Zu seiner Überraschung kamen in den Berliner Zeitungen einfach keine Hasen vor. Immer nur Leute! Dicke Leute, dünne Leute, Inländer und Ausländer. Die meisten hatten Kleider an, nur Frauen liefen oft ohne Hemd herum und sahen aus, als wäre es ihnen zu kalt. Esterhazy entwischt und versteckt sich in einem Auto, kommt so zu Franco, der Apfelkuchen und Sachertorte durch die Stadt fährt und ihn in seine Familie aufnimmt. Hier erlebt er wieder so einiges, etwa beim Besuch eines Restaurants, das er noch vor dem Essen verlässt, weil hier tote Hasen gegessen werden. Aber es geschieht etwas Wunderbares: Eines Tages gelangt Esterhazy zu der Mauer - und nicht nur sie findet er, sondern auch seine heißgeliebte Mimi. Sie bleiben zusammen die beiden "lebten glücklich und zufrieden hinter der Mauer". Bis eines Nachts Menschen kommen mit Hämmern und Bohrern und das junge Glück zerstören. "Was ist denn los?", fragte Esterhazy. "Die Mauer muss weg!", riefen die Leute. Am nächsten Abend war die ganze Hasenwiese schwarz von Menschen. Überall lagen zerbrochene Bierflaschen herum, und von der Mauer waren nur noch ein paar Trümmer übrig. Die Leute waren außer sich vor Freude, aber Esterhazy und Mimi wussten nicht, warum. "Ohne Mauer", sagte Mimi, "ist Berlin ziemlich ungemütlich, findest du nicht? Ich meine natürlich, für Hasen." Und Mimi und Esterhazy ziehen aufs Land. Bald werden Anzeigen in der ganzen Welt verschickt, die von der glücklichen Geburt vieler kleiner Esterhazys künden (und die prunkvoll tönenden Namen, die darauf stehen, stammen allesamt aus dem historischen Geschlecht der Adelsfamilie).
Personen: Enzensberger, Hans Magnus Dische, Irene Sowa, Michael
Esterhazy : eine Hasengeschichte / Irene Dische ; Hans Magnus Enzensberger. Mit Ill. von Michael Sowa. - München ; Wien : Carl Hanser, 2009. - [36] S. : überw. Ill. (farb.)
ISBN 978-3-446-23310-2 fest geb. : ca. € 15,40
Kinderbücher für Kinder zwischen 8 und 12 Jahren - Signatur: Disc - Buch