Gronemeyer, Reimer
Die Entfernung vom Wolfrudel über den drohenden Krieg der Jungen gegen die Alten
Buch

¬Die Entfernung vom Wolfrudel
über den drohenden Krieg der Jungen gegen die Alten Die Überschrift als eine Sammlung von ambivalenten Leseeindrücken deutet es schon an: über dieses Buch habe ich kein Urteil gefällt. Ich habe es in drei Tagen ausgelesen und frage mich, warum ich das Buch nicht eher in die Hände bekommen habe, aber auch, warum über das Buch so wenig bekannt ist bzw. warum es im Internet keine Rezensionen gibt und warum es überhaupt wofür wichtig ist... Ein Buch, das eben nicht erkalten lässt, sd. anspricht und das eigene Denken einfordert.

Vielleicht liegt es daran, dass der Autor das seltene Kunststück fertigbringt, analytische Tiefenschärfe mit einer breiten systematischen Einordnung zu verbinden und das Wagnis eingeht, die Einseitigkeit und das Mißverständnis nicht zu scheuen, um das Thema konkret und pointiert nahezubringen. Mich hat die Kunst des nachdenklichen Befragens des Selbstverständlichen fasziniert, die sich um Einsicht in Zusammenhänge bemüht und darin aufzeigt, dass die wesentlichen Fragen des Menschen echte Fragen sind, denen es sich im Laufe des eigenen Lebens zu stellen gilt und die deshalb durch sog. "Lösungen" nur verdrängt und verwaltet, d.h. handhabbar gemacht werden und darin zur Entmündigung und Einhegung des Lebendigen führen. Gronemeyer ist ein Mensch mit Charakter und Prinzipien, die er zu begründen bereit - und das macht das Buch so gehaltvoll und reich an Einsichten.

Worum geht es im Buch? Das Thema ist der Generationenkonflikt zwischen den Alten und den Jungen. Die Alten wollen leben und nicht abtreten, die Jungen wollen leben und müssen die eigene Verantwortung und Unabhängigkeit den Alten abringen. Gronemeyers These ist, dass dieser latente Konflikt im Laufe der Jahrhunderte in allen Kulturen eigenverantwortlich unter dem "Dach der Generationen", innerhalb der Familie ausgetragen wurde. Mit dem Ende der Arbeitsgesellschaft im 20. Jh. ist das Ende der Familie als soziales Regulativ gekommen und nichts gleichwertiges in Sicht, ja schlimmer noch, die Bearbeitung des Generationenkonfliktes wird nun soziale Großinstitutionen ausgetragen, die einerseits die persönliche Selbstbestimmung aushöhlen ("gelebt werden", Entmündigung) und andererseits die zwischenmenschlichen Konflikte "kalt und körperlos" bearbeiten (Sozialtechniker, Expertokratie, Verwaltung, Fremdbestimmung). Der Generationenkonflikt hat sich und wird sich noch verschärfen, weil die "Kälte der Verwaltung" die soziale Bindung zwischen den Generationen zerstört und damit den Aufeinanderprall zweier Gruppen heraufbeschwört, die jede Form von Entgegenkommen als Einschränkung ihrer privatistischen Einzelinteressen begreift und bekämpft.

Die Analyse ist knallhart, und Auswege werden im Buch nicht geboten. Meines Erachtens ist es von der Sache her geboten, weil es keinen billigen Ausweg und kein Herumdrücken um die Sache geben darf - es muss gerungen und gelitten werden. Die Einseitigkeit ist von daher hilfreich, um die Widersprüche aufzuzeigen und das Problem nicht abzudrängen.

Was ist das Problem? Das Thema ist benannt, das Problem ist darüber hinaus grundsätzlicher Art. Die Fülle der Einzelbeobachtungen im Buch dienen dazu, die Grundfrage anzugehen. was ist der Mensch, wer bin ich, wer will ich sein? Indem der Autor beschreibt, wie wir leben, zeigt er auf, was wir eigentlich von uns halten und welche Antwort wir auf die Grundfrage in unserem Herzen jeden Tag geben - egal, was wir uns in die Tasche lügen. Ein Beispiel gefällig? Gleich im Vorwort kommt Gronemeyer zur Sache: "Eine Idee ist tot: Die Familie ist tot. Sie war ein Dach über den Generationen (...), nun ist das Dach zerstört. Die Alten und die Kinder sind die Opfer dieser sozialen Katastrophe. Der Bruch des Generationenbündnisses hatte sich schon vor langer Zeit angekündigt. Je weniger die Familie Interessengemeinschaft sein durfte, desto mehr wurde sie vom Zwang zur Liebe und zum gegenseitigen Verständnis zerfressen. Geblieben ist der Beziehungskrieg zwischen den Erwachsenen. Familientherapeuten ziehen aus dem Ruin der Familie ihre Vorteile. Die Alten und die Kinder sind der Fürsorge staatlicher Instanzen anheimgefallen. Versorgung durch Schule und Altenheim, durch Kindergarten und "Essen auf Rädern" ist an die Stelle gegenseitiger familialer Gegenseitigkeit getreten. Es gibt viele Alte und wenige Kinder. Wer will heute noch Kinder? Sie sind teuer, kosten Geld, mindern die Lebensqualität. Und die Alten am Leben erhalten durch teure Präparate und Apparate, werden immer mehr. Das muss Streit geben: zwischen den Opfern der sozialen Katastrophe um den Kuchen, von dem sie versorgt werden. Und später, wenn aus den Kindern Jugendliche geworden sind, sollen sie für die Alten aufkommen. Warum eigentlich?"

Das Zitat zeigt zweierlei: einerseits die Sprachgewalt und Formulierungskunst, die hart an der Grenze zum Aphorismenhaften navigiert. Gronemeyer ist einfach schön und spannend zu lesen. Andererseits geht es um ein Thema, das keine faulen Kompromisse duldet. Die folgenden 160 Seiten dienen der Darstellung und Begründung (!) des im Vorwort skizzierten. Gronemeyer übt Zivilisationskritik, und stellenweise ist es hart zu ertragen. Der Weiterlesende wird belohnt: die Kritik ist notwendig und heilsam, weil sich die Umrisse des Kommenden im Modus des Vermissens herauskristallisieren. Die hier gebotene Kulturkritik will wachrütteln, um das bisher Selbstverständliche loszulassen. Ohne Änderungswille ist jede Kritik schal und billig und reißerisch. Gronemeyer begründet. Man mag ihm nicht immer folgen - aber der dadurch herausgeforderte Widerspruch ist unverzichtbar. Wieviele Bücher zur politischen etc. Kultur gibt es heute, die nur Zustimmung oder nur schwache Ablehnung nach sich ziehen, und das nur kurzfristig? Dieses Buch ist stark, weil seine Aussagen und die gebotene Begründungsleistung stark sind.

Ich bin mit dem Buch nicht fertig, habe aber bisher eines gelernt: ohne Gründe ist das Leben weder lebenswert noch kann es ohne Gründe gelebt werden. Der heutige Hang (oder vielleicht auch Zwang?) zu individuellen Antworten auf die Sinnfrage ist selbstwidersprüchlich und verhängnisvoll, weil er die privaten Interessen einer Single-Kultur verabsolutiert und jegliche soziale Bindungen ihres Grundes und damit Sinnes beraubt. Wir sind dabei, unseren Kindern nichts mehr zu hinterlassen als unsere selbstgeschaffene technisch perfektionierte Zivilisation, die sowohl deren Lebensmodell anders als jemals in der Geschichte dauerhaft festlegt als auch ihnen darin nichts substantielles = menschliches weiterzugeben vermag. Wenn der Daseinszweck im Kaufen und Verbrauchen von Waren und Dienstleistungen besteht, was können wir dann von unseren Kindern erwarten, die nichts anderes mehr kennen? Die keine Erziehung mehr kennen, weil es keine Erziehungsziele mehr gibt (was soll Charakter und Prinzipienfestigkeit innerhalb einer Dienstleistungsgesellschaft mit dem Anspruch einer Dauerfreizeitgesellschaft noch bedeuten?; was sollen klassische Tugenden, wenn auch die Familie nur nach außen gerichtet ist: Funktion?); die nur noch Beziehungen kennen, die den Namen nicht verdienen, weil es im Kern Selbstbeziehungen sind (warum soll ich bleiben?, statt: warum gehst du fort?; ich ertrage den anderen nicht, weil er meine Freiheit und Individualität einschränkt); die keine menschliche Wärme mehr kennen, weil die Angst vor Unsicherheit zur Abgabe persönlicher Selbstbestimmung geführt hat (für alle zwischenmenschlichen Probleme sind "Experten" zuständig, nicht ich; alle Probleme müssen gelöst werden, weil es keine mit dem Menschsein zusammenhängenden Grundprobleme geben darf); die kein Lassen mehr kennen, weil es keine Aufgabe des eigenen Machenwollens mehr geben darf (es gibt kein Sterben, weil der Tod bezwungen werden muss; es gibt keine Bindung, weil Bindung fesselt und nicht freimacht zur Hingabe; es gibt keine menschliche Spontaneität = Freiheit, weil alles geplant und verwaltet und kontrolliert werden muss?)?


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Personen: Gronemeyer, Reimer

GS Grone

Gronemeyer, Reimer:
¬Die Entfernung vom Wolfrudel : über den drohenden Krieg der Jungen gegen die Alten / Reimer Gronemeyer. - 2. Aufl. - Düsseldorf : Claassen Verl., 1989. - 174 S.
ISBN 978-3-546-43530-7 fest geb. : 29,80

Zugangsnummer: 2012/1252 - Barcode: 2-3111243-5-00001269-0
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