Culver Plaza, Coney Island 1877. Ein Junge sitzt auf einer Kiste und geht seiner Arbeit nach: Er ist ein begnadeter Kartenspieler, „auch ein begnadeter Betrüger, wenn er auf jemanden traf, der es besser konnte als er“. An diesem Augustnachmittag trifft er auf seinen Meister, der ihm nicht nur das Geld abnimmt, sondern auch noch ein Veilchen verpasst. Etwa zur gleichen Zeit kommt, mit dem Vier-Uhr-Zug aus New York, ein Mann im weißen Leinenanzug in Coney Island an, in der Hand eine Reisetasche, in der sich ein Haufen Knochen befindet, aus denen später am Abend ein weiterer Mann werden wird. Walker und Bones heißen die beiden und sind keine Menschen. Sie kommen im Auftrag von Jack, der aus Brooklyn und New York seine ganz private Hölle machen will. Die Voraussetzungen sind gut: Das Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs ist noch nicht lange her, die verheerenden Folgen sind überall sichtbar und spürbar. Der wirtschaftliche und moralische Wiederaufbau und das neuerliche Zusammenwachsen kosten Zeit und Kraft und Geld, von all dem ist in dieser Phase der allgemeinen Depression nicht viel da: „Dieses Land ist kein besonders sicherer Ort. Die Leute sind wütend, immer noch. Sie haben Angst und sie haben den Eindruck, sie müssten sich gegenseitig bestrafen.“ Wer weiß, was mit dem ganzen Land passiert, wenn einer wie Jack, den nicht mal der Teufel in der Hölle haben wollte, diese wichtige Stadt übernimmt. Im Kampf gegen das Böse gibt Sam, der Trickster, den Sidekick von Jin, einer jungen Chinesin, die als Feuerwerkerin in Coney Island Station macht. In ihrem Kampf gegen das Böse werden die beiden u. a. von einem geheimnisvollen Spieler und einem alten schwarzen Musiker, die beide als Wanderer durch die Zeiten und das Land ziehen, unterstützt, von Ambrose Bierce, der allerdings zumeist ein Glas in der Hand hat, einem alten Chinesen und einem kleinen Gangster, der zu den Säulen der Stadt zählt. Was die amerikanische Autorin Kate Milford in ihrem von Alexandra Ernst übersetzten Roman zusammenbringt, scheint auf den ersten Blick eher nicht kompatibel: Jede Menge Realität, repräsentiert durch eine wirkliche Stadt zu einem ganz exakten Zeitpunkt, Fakten und Daten aus einer kritischen Epoche der US-amerikanischen Geschichte, dazu Figuren und Motive aus Märchen und Volkserzählungen unterschiedlicher Provenienz, den berühmten Jack natürlich, aber auch eine faustische Gestalt. Dass die Reflexionen über amerikanische Geschichte – was macht eine Nation aus, was kann sie aushalten und wer hält sie zusammen – mit Motiven der Schauergeschichte und dem Phantastischen zusammenkommen und -passen, dafür sorgt nicht nur jede Menge Action – Mord und Totschlag, Feuerwerk und Verfolgungsjagden in Kutschen, ein fulminanter erster Showdown auf dem Catwalk der New York and Brooklyn Bridge, die gerade im Entstehen ist –, sondern vor allem auch die sehr romantische Liebesgeschichte zwischen den beiden Waisen Sam und Jin. Nicht alles ist deutbar für den Rezensenten, nicht jeder Kontext steht zur Verfügung, das wundert nicht bei der Fülle der Stoffe, Figuren und Motive, die hier remixed werden. Aber das muss ja auch nicht sein. Denn, wie es im Roman über ein Handbuch der Feuerwerkskunst heißt, „warum sollte man ein Buch lesen (…), und zwar irgendein Buch, wenn es nur auf eine Art gelesen und verstanden werden könnte?“ Im amerikanischen Original ist Milfords „The Broken Lands“ als Prequel zu ihrem früher erschienenen „The Boneshaker“ herausgekommen. Vielleicht kriegen wir das ja auch noch in der deutschen Fassung zu lesen.
Personen: Milford, Kate Offermann, Andrea Ernst, Alexandra
Milford, Kate:
Broken Lands / Kate Milford. Mit Ill. von Andrea Offermann. Aus dem Engl. von Alexandra Ernst. - Stuttgart : Freies Geistesleben, 2014. - 486 S. : Ill.
ISBN 978-3-7725-2773-9 fest geb. : ca. Eur 20,50
Kinder-/Jugendbereich - Signatur: 3.6MIL - Buch