Afghanistan taucht im höllischen Alphabet an vorderster Stelle auf. Der Westen bezieht aus diesem Land Drogen, Flüchtlinge und schlechte Nachrichten. Dafür liefert er Bombardements, Unverständnis und Abscheu. Friedrich Orter war jahrelang Korrespondent in Kabul und zumindest hintennach bei jedem Attentat dabei. Eine Chronik der jüngeren Geschichte Afghanistans besteht aus einer unendlich langen Attentatsliste mit entsprechenden Toten und mehr oder weniger symbolträchtigen Schauplätzen. Der Autor dreht dabei die Chronologie um, das heißt er rechnet von Trump im August 2017 zurück ins sechzehnte Jahrhundert und kommt immer auf diverse Großmächte, die das Land vereinnahmt haben, um wie Babur 1505 darin die Mogul-Dynastie zu installieren oder einfach Stellvertreterkriege darin abzuwickeln. Imposant ist eine Stellungnahme eines ehemaligen CIA-Mannes, der davon schwärmt, wie man seinerzeit im Kalten Krieg die Sowjetunion in die Falle Afghanistan gelockt hat. Dass jetzt die USA in dieser Falle sitzen, sagt er naturgemäß nicht. Die Chronik Afghanistans kann man tatsächlich vor und zurück lesen, sie ist immer irreal logisch. Friedrich Orter versucht in diesem Desaster ein paar Spuren zu finden, wie Menschen in dieser Gewaltorgie überleben und so etwas wie Optimismus entfalten können. Ein Beispiel könnte der Vogelmarkt in Kabul sein, der wörtlich übersetzt so etwas wie der Heumarkt ist. „In der surrealen Idylle nahe der ehemaligen Prachtstraße sucht die traumatisierte Bevölkerung Ablenkung bei den Tauben.“ (30) Selbst das Flanieren abseits der Hauptrouten ist gefährlich und so verkleiden sich Journalisten als unauffällige Personen, benutzen unauffällige Dolmetscher und versuchen die Gespräche so unauffällig wie möglich zu führen. Ein paar Interview-Partner erzählen von ihrem Schicksal aus entlegenen Provinzen, wo die Taubenzucht gepflegt wird und die Falknerei seit Jahrhunderten angesehen ist. Die Vögel dienen als weise Wesen, wenn man suffistischen Erzählungen lauscht. Andererseits werden die Zugvögel auf ihren kontinentalen Routen gnadenlos gejagt und verzehrt. Die Biographien durchbrechen das gängige Schwarz-Weiß-Schema der Berichterstattung. Hellhörig wird man als Leser, wenn man merkt, dass Terroristen oft die Seite wechseln, weil sie nicht wissen, was gerade Gut und Böse ist. Auch War-Lords haben es oft mit friedlichen Mitteln versucht, eine Region voran zu bringen. Als Grunderkenntnis bleibt: Kabul ist für alle weit weg und ein beinahe westlicher Mythos. Alle sind traumatisiert und auch Bandenführer leiden an Traumatisierung oder sind schlicht depressiv. In einem Nachwort weist der Autor darauf hin, dass sich in der nächsten Zeit nichts ändern wird. Der Iran hat gerade eine Autobahn in den Nachbarstaat hineingebaut, um Schmuggel und Handel besser kontrollieren zu können. Im Norden bemüht sich Russland um eine geordnete Grenzsicherung, um den radikalen Islam abzuwehren. Und die Amerikaner sind wie immer mit ihren Drohnen unterwegs und haben keinen Plan. „Tot sind wir alle gleich“, (99) sagt der Vogelhändler von Kabul und fügt abgeklärt hinzu: „Ich wäre glücklich, wenn ich mit meinen Nachtigallen sprechen und verstehen könnte, welche Botschaft sie für uns haben.“ Helmuth Schönauer
Personen: Orter, Friedrich
Orter, Friedrich:
¬Der¬ Vogelhändler von Kabul / Friedrich Orter. - Salzburg : Ecowin, 2017. - 127 S. : Ill.
ISBN 978-3-7110-0147-4 fest geb. : ca. Eur 20,00
Romane, Erzählungen, Novellen - Signatur: DR Orte - Buch: Dichtung