Gesellschaftskritischer Roman aus dem Frankreich unserer Zeit. (DR) In ihrem zehnten Roman setzt sich die französische Schriftstellerin Karine Tuil anhand dreier Protagonisten mit den drängendsten Fragen unserer Zeit auseinander: Rassismus (auch, aber längst nicht nur, in der Spielart des Antisemitismus), Kolonialismus und Migration, das Auseinanderdriften einer reichen Elite und unterprivilegierter, ums tägliche Überleben kämpfender Schichten, Hochmut im Präsidentenpalast und Wut in den Banlieues, Islamismus und Terrorismus, die Unmenschlichkeit von Machtsystemen und Korruption. Dabei ist nicht alles so einfach plakativ in Gut und Böse einzuteilen, wie anhand der "Helden" des Romans sichtbar wird. Da ist einmal Romain Roller, der sich aus der Banlieue als Elitesoldat hochgearbeitet hat und bei einem kurzen Erholungsstopp nach traumatischen Erfahrungen in Afghanistan sein Trauma nur in der Affäre mit der Journalistin Marion Decker vergessen kann. Diese ist mit François Vély verheiratet, einem der reichsten Männer Frankreichs, Konzernchef und Sohn eines prominenten jüdischen Widerstandskämpfers. Als dritte Hauptfigur fungiert Osman Diboula, Kind schwarzer Einwanderer von der Elfenbeinküste, der als Freizeitanimateur mit sozialarbeiterischem Engagement bei Unruhen in den Banlieues für Beruhigung sorgt und im Zuge dessen als - wie er später zu fühlen bekommt - "Alibi"-Schwarzer Präsidentenberater im Élysée-Palast wird. Alle drei Protagonisten sind mit gravierenden Lebenskrisen konfrontiert: Diboula verliert nach einer hochfahrenden Reaktion auf einen rassistischen Angriff seinen Job, Roller leidet an seinem posttraumatischen Syndrom und entfremdet sich durch die Liebe zu Marion seiner Familie und der scheinbar unangreifbare, erfahrene Wirtschaftskapitän Vély wird nach einer Homestory mit provokanten Aufnahmen mit massiven Rassismusvorwürfen konfrontiert, gleichzeitig als "Jude", als der er sich nie verstand, denunziert und verunglimpft, und scheitert bei einer wichtigen Fusion sowie in seiner dritten Ehe mit Marion Decker. Alle drei Protagonisten sind direkt oder indirekt miteinander verbunden und treffen sich bei einem Wirtschaftsgipfel im Irak, der in einem Desaster endet. Ein Roman, der durch seine psychologische Zeichnung der Charaktere und die behandelten Lebensfragen besticht (vorschnelle, einfache Antworten gibt es bei Tuil nicht), die Spannung wie bei einer griechischen Tragödie auf den Höhepunkt steigert und nach dieser als Kartharsis wirkenden Katastrophe die Überlebenden in ein Leben entlässt, das nie mehr so sein wird, wie es einmal war. In diesem Zusammenhang sei noch auf den französischen Titel des Romans verwiesen: "L'insouciance" wird mit "Leichtigkeit", "Unbeschwertheit" übersetzt, und genau diese haben die überlebenden Charaktere laut den letzten Sätzen des Romans nachhaltig verloren.
Personen: Ueberle-Pfaff, Maja (Übers.) Tuil, Karine
Tuil, Karine:
¬Die¬ Zeit der Ruhelosen : [Roman] / Karine Tuil. - Berlin : Ullstein, 2017. - 504 S. - Aus dem Franz. von Maja Ueberle-Pfaff
ISBN 978-3-550-08175-0 fest geb. : Eur 24,70
Gesellschaft-, Liebes- und Eheromane, Frauen und Familienromane - Signatur: DR.G Tuil - Buch: Dichtung