Im Frühsommer diesen Jahres ist nun "Das Bücherzimmer" mit Vorausexemplaren, Lesereise der Autorin und sonstigen Marketing-Selbstverständlichkeiten als sechstes Buch der Autorin vom Deutschen Taschenbuchverlag, in dessen Premium-Reihe es publiziert wurde, dem Publikum vorgelegt worden. Wieder handelt es sich um eine Art historischen Roman. Rosemarie Marschner ist mit diesem Buch quasi nach Oberösterreich heimgekehrt, denn es spielt in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts in der Umgebung von Wels und vor allem in Adolf Hitlers Patenstadt Linz. Der Aufbau des Romans ist übersichtlich und einfach. Eingefasst in einer kurzen Rahmenerzählung berichtet ein allwissender Erzähler gegliedert in drei "Bücher" entlang der Chronologie der Ereignisse das Leben von Marie Zweisam. Dieser sehr traditionelle Zugang bringt das durchaus turbulente Leben der unehelichen Tochter eines wohlhabenden und einflussreichen Sommerfrischlers aus Linz und einer Bauerntochter in eine schöne Ordnung, die in offensichtlichem Widerspruch zur Biographie der Protagonistin und den Grausamkeiten der Zeitläufe steht. Diese Art des Erzählens, die ja vorgibt, alles im Griff zu haben, ist, gekonnt praktiziert, meist (wenn frau/man das so mag) leicht zu lesen, vermittelt aber ein heute nicht mehr mögliches Bild von Geschichte und schafft es vor allem nicht, wirklich glaubwürdig zu sein. Marie Zweisam kommt noch als halbes Kind in einen reichen Linzer Bürgerhaushalt, in dem sie nicht nur eine bis dahin für sie vollkommen fremde Welt kennen lernt, sondern auch mit dem Lesen von Zeitungen und Büchern vertraut gemacht wird. Dieses Lesen soll für Marie nicht nur Hilfe in der Entwicklung einer relativ autonomen Persönlichkeit bedeuten, sondern sie auch gegen die Propaganda sämtlicher damaliger Parteien immunisieren. Zumal wir Leser nicht wirklich erfahren, welche Art von Literatur das alles leistet, liegt hier doch eine etwas naive Überschätzung der Bedeutung von Gedrucktem vor. Rosemarie Marschner hat, wie der Verlag mitteilt, ihrer Heldin - der Ausdruck passt hier tatsächlich - Marie Zweisam die Biographie ihrer Großmutter zugrunde gelegt. Dabei erfahren wir eine Reihe berührender Episoden aus dem Alltag eines Dienstmädchens der dreißiger Jahre und dann vor allem die gelungene Darstellung einer Kleingewerbefamilie, die unter der Fuchtel einer um jeden Preis aufstiegswilligen Frau steht. Die Mischung von moralischer Verwahrlosung und unbändigem Aufstiegswillen, wie sie Maries Schwiegermutter verkörpert, bleibt im Gedächtnis hängen. Doch die Autorin erzählt nicht bloß die private Geschichte einer Familie. Sie versucht vielmehr die wesentlichen politischen Ereignisse der Zeit aus der Sicht der Protagonisten erkennbar zu machen. Dabei stützt sie sich auf Recherchen, die vor allem die Pläne Hitlers berücksichtigen, durch die Gründung der Hermann Göring Stahlwerke die ländlichen Provinzstadt in eine Industriestadt zu verwandeln, die ein zweites Budapest an der Donau werden sollte. Damals wurde das Dorf (ab 1915 ein Stadtteil von Linz) St. Peter/Zitzlau wegen seiner Lage zum Bauplatz für das Hüttenwerk, das für die Rüstung dringend gebraucht wurde. Mit diesem Buch gibt es jetzt eine literarische Darstellung der Vertreibung der Dorfbevölkerung und der damit verbundenen Veränderung. In "Das Bücherzimmer" wird die Ambivalenz des erzwungenen Fortschritts in Richtung Industrialisierung an Einzelschicksalen deutlich gemacht. (Auf der Homepage des Geschichte-Clubs der VOEST kann man Bilder und Literaturangaben zu St. Peter/Zitzlau finden.) Gut arbeitet Marschner dabei heraus, was Evan Burr Buckey, der eine Monographie über "Hitler's Hometown" verfasste, in dem Satz zusammenfasst: "It was the Reich Germans who played the most conspicuos role since they alone possessed the vision and the capital to effect the desired changes." In dem Roman kommen historische Orte und Namen vor, wie etwa das Gasthaus Schrefler in St. Peter oder der Hotelier Weinzinger, während die Namen der Hauptakteure erfunden sind. Die Genauigkeit mancher Details lässt darauf schließen, dass sich dahinter teilweise wirkliche Personen verbergen. Wer nicht zu kritisch ist, findet den Roman sicher lesenswert. Er ist flüssig geschrieben, nicht frei von Klischees und verbrauchten Bildern, versucht aber eine Art Aufklärung über eine schwierige Zeit zu geben. Edutainment wird das wohl heute genannt. *LuK* Helmut Sturm
Personen: Marschner, Rosemarie
Marschner, Rosemarie:
¬Das¬ Bücherzimmer : Roman / Rosemarie Marschner. - München : Deutscher Taschenbuch-Verl., 2004. - 420 S.
ISBN 3-423-24403-8 kt. : Eur 9,20
Politische und sozialkritische Romane - Signatur: DR.Z Mars - Buch: Dichtung