Die höchste Roman-Kunst besteht darin, sein eigenes Leben so aufzuschreiben, dass man meint, es sei eine allgemeingültige Geschichte der Menschheit. Martin Prinz hat seine Kindheit in der Peripherie-Hauptstadt Lilienfeld verbracht, die 1976 während der tausendjährigen Babenberger-Ausstellung zumindest in Österreich zu Weltruhm gelangt ist. In den unsichtbaren Seiten beschreibt er einerseits Teile des erzählenden Ichs, die normalerweise nicht sichtbar sind, andererseits liegt den aufgeschriebenen Sequenzen immer eine geheime, unsichtbare Chronik zugrunde, die zwar während des Lesens kurz aufleuchtet, dann aber wieder mit dem zugeklappten Cover im Regal verschwindet, wenn der Roman abgestellt wird. Gerade dieser raffinierter Erzähltrick, dass das Unsichtbare wie bei einer Zauberei mit einer Geheimschrift kurz sichtbar gemacht wird, dann aber wieder ins Unauffällige und Belanglose zurücksinkt, kommt der evozierten Stadt Lilienfeld zugute. Für eine Romanlänge spielt sie jene Rolle, die sie für darin Heranwachsende spielen. Und so ist der erste Satz als märchenhafte Formel zu verstehen: "Ich bin der König. […] Der König von Lilienfeld." In fünf Abschnitten baut sich das Märchenreich allmählich zur melancholischen Realität aus. Zuerst haben nur die Verwandten das Wort und es gilt zwischen dem Clan in Traisen und jenem in Lilienfeld zu unterscheiden. Die beiden Reiche sind sich ähnlich wie Sparta und Athen, oder später im Kalten Krieg wie die beiden Deutschlands. Sie stehen einander gegenüber, und glotzen sich an. Diese Kunst wird gerade in der Provinz hochgehalten. Der Großvater ist zudem dreißig Jahre lang Bürgermeister gewesen, was den Erzähler zur Ansicht verleitet, dass er vielleicht wirklich ein politischer Prinz ist, und nicht bloß der kleine Prinz, der ihm in der Schule als Lesestoff gezeigt wird. Der Stoff der Kindheit beruht nämlich auf seltsamen Quellen. "Viele solch früher Erinnerungen rührten in Wirklichkeit von Erzählungen der Eltern her." (39) Allmählich zieht die Zeitgeschichte auch über Lilienfeld herein. Der Held liegt im Gras und schaut in den Himmel und gibt den Himmelsrichtungen Namen von Atomkraftwerken, wohin die Wolken ziehen werden, wenn sie das abgestellte Zwentendorf überquert haben. (77) An anderer Stelle kommen die ersten Laufschuhe für die Mutter von Nike und riechen nach Amerika. Als der Großvater stirbt, sammelt der Erzähler gerade Fußballer-Bildchen für eine WM und der Vater schreit wie bei einem falschen Tor, als er den Großvater verstorben entdeckt. Jahre später wird das Haus geräumt. Bilder ohne Anlass liegen herum und warten auf eine Geschichte, zu der sie passen könnten. "Das schreibe ich und langsam begreife ich, wie oft das Nicht-mehr-Erinnerte das Gegenteil von Vergessen ist." (221) Die unsichtbaren Seiten lassen sich als Musterroman lesen, worin jeder während der Lektüre sein eigenes Leben einhängen kann wie bei einem begehbaren Schrank. Helmuth Schönauer
Personen: Prinz, Martin
Prinz, Martin:
¬Die¬ unsichtbaren Seiten : Roman / Martin Prinz. - Berlin : Insel, 2018. - 220 S.
ISBN 978-3-458-17740-1 fest geb. : ca. Eur 22,70
Gesellschaft-, Liebes- und Eheromane, Frauen und Familienromane - Signatur: DR.G Prin - Buch: Dichtung