Laher, Ludwig
Herzfleischentartung Roman
Buch: Dichtung

Ordentliche Beschäftigungspolitik / Zu Ludwig Lahers "Herzfleischentartung" St. Pantaleon im oberösterreichischen Innviertel. Mitten in der »gemütlichen Provinz«, im »sicheren Hinterland« also, wird kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs ein sogenanntes »Arbeitserziehungslager« eingerichtet. Aufgrund »ungewöhnlicher Vorkommnisse«, das heißt außerordentlicher Brutalität, und aufgrund des Umstandes, daß einer der Beteiligten sich an diesem Treiben nicht länger beteiligen will, wird das Lager geschlossen, um wenig später als sogenanntes »Zigeuneranhaltelager« wieder eröffnet zu werden. Das ist in aller Kürze das Thema von Ludwig Lahers Roman »Herzfleischentartung«. Ein herausragendes Buch, doch darüber wird später noch zu reden sein. Der oberösterreichische Autor hat sich für seinen knapp 200 Seiten starken Roman durch tausende Seiten von Originalakten gearbeitet, und daß es ihm dabei gelungen ist, nicht nur den berühmten »roten Faden« zu sichern, sondern auch noch eine literarisch höchst überzeugende Konstruktion für dieses verdrängte Kapitel österreichisch-nationalsozialistischer Geschichte zu finden, das ist schon einmal das erste große Verdienst Lahers. Ludwig Laher begibt sich nämlich in eine gewagte Erzählerposition. Er reportiert die grausamen Geschehnisse mit größtmöglicher Distanz, läßt die Tatsachen für sich sprechen und erreicht mit dem ihm eigenen sprachlichen Sarkasmus jene Betroffenheit beim Leser, die er sich wohl auch erhofft hat. »Ach, ja«, heißt es da einmal in Lahers Roman, »es ist jetzt zufällig auf den Tag genau ein halbes Jahr vergangen, seit die gute Idee des Franz Kubinger in die Tat umgesetzt wurde. Als durchschlagender Erfolg hat sie sich erwiesen, scheint es im Moment, alles läuft wie geschmiert. Die SA hat ihren Spaß, das Wasserwirtschaftsamt seine billigen Arbeitskräfte, die Opfer schuften verschüchtert um ihr Leben, jeder Morgen kann ja gut und gern ihr letzter sein. Auf den Arbeitslohn werden besondere Kosten der Lagererziehung angerechnet.« Und über die diversen Folterungen und Bestialitäten, die von den Lagerschergen als »Späße« verstanden werden, insbesondere wenn es sich um rituelle »Weihnachtszüchtigungen« handelt, heißt es an anderer Stelle: »Josef Mayrlehner, vormals Tischlergehilfe, hat sich dieser Tage eine schöne Geißel aus Lederriemen beschafft, mit der zerfetzt er jetzt an der Baustelle das Gesicht des Ferdinand Duböck. Eine Viertelstunde geht das so dahin. Ferdinand hat genug und murmelt, er wolle sich aufhängen. Josef Mayrlehner hält das für einen brauchbaren Vorschlag. Er holt einen Strick, gibt ihn dem Mann mit dem inzwischen blutrot gesprenkelten Bart und schlägt als Tatort die Werkzeughütte vor. Duböck geht hinein und hängt sich auf.« Die Liste dieser lakonischen Zitate ließe sich noch lange fortführen, und gewiß gibt es für diese literarische Methode – zumindest in Österreich – eine »Ahnfrau«, und die heißt Elfriede Jelinek. Doch Ludwig Laher versteht es in jedem Moment seines Romans, Epigonalität zu vermeiden. Ganz im Gegenteil. Hier geschieht etwas unerhört Neues, das man im Kanon der antifaschistischen Literatur, wie sie vor allem seit dem Ende der achtziger Jahre geschrieben worden ist, vergeblich suchen wird. Wäre der Vergleich nicht zu weit hergeholt, und die Perspektive noch dazu eine falsche, so fühlt man sich doch hin und wieder an den Ungarn Imre Kértész und dessen (ebenfalls lakonisch-sarkastischen) »Roman eines Schicksallosen« erinnert. Nur erzählt Kértész seine eigenen Erfahrungen als Überlebender der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie; Laher tut es aus der Position des Nachgeborenen: »Nicht weil wir die Weisheit mit dem Löffel gefressen hätten, weil uns Selbstzweifel fremd wären, nehmen wir uns das Recht heraus, so genau hinzuschauen, daß es weh tut. Um die Wahrheit zu sagen, wir haben vor einiger Zeit unerwartet Besuch bekommen, kann gut sein, daß es spät in der Nacht war. Was würden denn Sie einem einst mit neun Jahren ermordeten Mädchen antworten, wenn es plötzlich dasteht und Sie ersucht, ihm das Leben zu nehmen?« Das mit neun Jahren ermordete Mädchen, das ist – wenn man es so nennen kann – ein Opfer der »Phase 2 von St. Pantaleon«. Denn als eines Tages der Gemeindedoktor und Lagerarzt, der sich zuvor mit Todesdiagnosen wie »Herzschwäche« und ähnlichen Euphemismen hervorgetan hat, nicht mehr willens ist, den sadistischen Exzessen noch länger seinen Stempel aufzudrücken und Anzeige erstattet, wird das »Arbeitserziehungslager« geschlossen und zu einem »Zigeuneranhaltelager« umfunktioniert. Für die Roma und Sinti, für diejenigen, die es überleben und nicht an »Herzfleischentartung«, wie es in einem der Totenscheine heißt, zu Grunde gehen, bleibt St. Pantaleon ein Durchgangslager. Über das burgenländische Lackenbach werden sie ins Ghetto von Lodz verschleppt und dort zu Tausenden umgebracht. In St. Pantaleon allerdings geht nach 1945 das Leben munter weiter. Keiner will etwas gewußt haben, keiner will etwas getan haben, alle neuen demokratischen Parteien stellen bereitwillig ihre »Persilscheine« in Sachen Entnazifizierung aus, und selbst der verurteilte Haupttäter wird 1955 amnestiert. Für diese Art der »Vergangenheitsbewältigung« ist das oberösterreichische Dorf nichts anderes als eine weitere Chiffre in einer reich bestückten Landkarte heimischer Verdrängungspolitik. Mag es sich um den Kärntner Loibltunnel handeln, von dessen Zustandekommen im Rahmen der »ordentlichen Beschäftigungspolitik« auch keiner etwas gewußt haben will, mögen es die diversen »Nebenlager« Mauthausens oder gar die kollektive Lynchjustiz rund um Mauthausen sein, die als »Mühlviertler Hasenjagd« zumindest in die literarische Geschichte eingegangen ist; durch Autoren wie Elisabeth Reichart oder Helmut Rizy. Am Ende des Romans steht der Erzähler Ludwig Laher alleine da. Alleine wie vielleicht eine ganze Generation: »…auch das von mir immer wieder durchgeblätterte Fotoalbum meines früh toten Vaters warnt mich, mit dem Bild vom ausgelassenen Kompaniefasching neben dem eines aufgehängten Titopartisanen und den entsprechenden Bildunterschriften. Nein, festen Boden vermute ich lange nicht unter meinen Füßen, und merkwürdig früh wundere ich mich ernsthaft darüber, nicht einfach einzubrechen, wundere ich mich, daß wir nicht alle einbrechen. Und besinnungslos untergehen.« *LuK* Gerhard Moser


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Personen: Laher, Ludwig

Schlagwörter: Taschenbuch Nationalsozialismus Konzentrationslager Neuere österreichische Literatur Straflager Autor <Österreich> Autor <Oberösterreich> österreichische Literaur <Neuere>

Laher, Ludwig:
Herzfleischentartung : Roman / Ludwig Laher. - Innsbruck : Haymon, 2001. - 187 S.
ISBN 978-3-85218-808-9 kt. : Eur 9,95

Zugangsnummer: 0016902001 - Barcode: 0000367400
Politische und sozialkritische Romane - Signatur: DR.Z Lahe - Buch: Dichtung