Er lässt sich nicht hetzen. Zoran Drvenkar will Großes und holt dementsprechend weit aus, um die Biographie eines jungen Mädchens in einen weltenumspannenden Mythos zu betten. Im Winter 1704 wird Vida in Russland geboren und als Heilsträgerin erkannt, an der sich Gut und Böse abarbeiten werden – um sie geduldig hinzuführen zu ihrer rettenden Rolle oder aufzuhalten. Ein auktorialer Erzähler thront über allem und füttert geduldige LeserInnen mit Erzählhappen aus unterschiedlichen Perspektiven: die Kindheit der halbwaisen Vida mit Vater und Tanten in einem naturnahen Dorf, die Suche des bösen gestaltwandelnden „Wächters“ nach dem erlösenden Kind und schicksalshafte Begegnungen mit Bärenjungen oder einer kindlichen Adeligen. Zu sagen, Zoran Drvenkar baue so kleinteilig an einem erzählerischen Gerüst, wäre zu tief gegriffen. Erzählerische Kathedrale käme dem Text schon näher: Dem Roman liegt eine umfassende gnostische Mythologie zugrunde, ein Dualismus von Gut und Böse, eine Kosmogonie von Licht und Finsternis. Deren Schlüsselmoment bindet Zoran Drvenkar an ein Bild von Pieter Bruegel d.?Ä., der nicht nur die Grundlage des Buchcovers liefert, sondern auch mit Vidas Eltern befreundet gewesen sein soll und deren schicksalsträchtige Geschichte bebildert haben soll. Vidas Vater war ein Sterblicher, ihre Mutter eine jener Dreiundzwanzig Mütter, die vor sieben Millionen Jahren als Licht auf die Erde kamen und das Chaos ordneten. Die gemeinsame Tochter soll nun als Art Messias die Erlösung bringen. Aber wovon? Zoran Drvenkar erzählt lange von der Bestimmung des Kindes, bevor er den eigentlichen Auftrag andeutet: Vida soll die Finsternis verdrängen, die eine der Mütter gebracht hat. Durch ihre Eifersucht auf Vidas Eltern schuf sie die schlechten Emotionen, die nun personifiziert als Herrschaften über die Erde wandeln. Mit diesen Figuren und dem körperraubenden Wächter als Handlanger hat der Autor wunderbare Bösewichte geschaffen – gleichen Ursprungs wie das Gute, aber impulsiv und destruktiv. Sie sind Anlass für eine Vielzahl an spannenden und auch actiongeladenen Szenen, die sich mit schicksalsträchtigen Dialogen und genauen Beschreibungen des Settings abwechseln. Souverän bedient sich Zoran Drvenkar so unterschiedlicher Erzählrhythmen und Emotionen (mit Pathos wird nicht gespart) und gibt auch kuriosen Erzählimpulsen nach. Wenn etwa die tapfere Heldin auf den sprechenden Raben Ezekiel trifft, der ihr als Wächter der Zeit ihre Zukunft verrät. Aber in einer Sprache, die sie noch nicht spricht … Die Lebenslinien der vielen Figuren, auf dem Cover als feine Fäden visualisiert, verschlingen sich durch die Zeit zu einer Art Chronik, für die man anfangs einen langen Atem braucht. Wer den tiefen Tauchgang in die bildgewaltigen und akribisch ausgearbeiteten Kapitel meistert, wird belohnt mit der epischen Größe eines Tolkiens und dem Erzähltalent eines Drvenkars. Und natürlich zieht der mit dem letzten Satz noch einen Trick aus dem Ärmel. Er relativiert „Licht und Schatten“ als Prolog einer viel größeren Geschichte. Es bleibt zu hoffen, dass Autor und Verlag dieser Idee treu bleiben wollen und Vidas Geschichte weitergeht.
Personen: Drvenkar, Zoran
Drvenkar, Zoran:
Licht und Schatten / Zoran Drvenkar. - Orig.-Ausg. - Weinheim : Beltz & Gelberg, 2019. - 584 S.
ISBN 978-3-407-75462-2 fest geb. : Eur 20,60
Fantasy - Signatur: JE.J Drve - Buch: Kinder/Jugend