Eine der größten Hommagen an den Wald heißt schlicht "Der Wald rauscht" (1885) und stammt vom ukrainisch gebürtigen Schriftsteller Wladimir Korolenko. Dabei wird der Wald als eigener Kosmos mit eigenen Gesetzen, Göttern und Geschäftsmodellen dargestellt. Eine vergleichbare Wald-Hommage stellt der Roman "Mitternachtsblüte" von Maria Matios dar, dabei versinkt das zu epileptischen Anfällen neigende Mädchen Iwanka in einem eigenen Weltall von Kräutern, Farnen und Mitternachtsblüten. Dieser geheimnisvolle Lebenswald irgendwo in den Karpaten lässt diverse Religionen als Zivilisationsformen zu, die diversen Volks- und Religionsgruppen sind in ihrer Vielfalt wie üppige Vegetation in einem harmonischen Bio-Reservat zu sehen. Für Iwanka ist das alles aufregend, zumal sie viele Dinge von einer anderen Warte aus betrachtet. Da stimmen die alten Erzählungen nicht mehr mit dem Verhalten der Dorfbewohner überein, ein Mädchen hat plötzlich einen Geburtstermin und muss beim Feind in der Kirche niederkommen. Ist das nicht Sünde? - Alles ist Sünde, meint der Geistliche, der wahrlich andere Sorgen hat. Religion, Erziehung, Bildung: alles ist eine Sache der Perspektive. Die Kinder werden allabendlich zu einer Familienaufstellung der besonderen Art aufgestellt und für die Geschehnisse des abgelaufenen Tages durchgewatscht. Iwanka macht sich jeweils einen eigenen Reim auf diese Welt, vielleicht hängt vieles auch mit Pilzen und anderen Bewusstseins-erweiternden Getränken zusammen. "Das Kind ist nicht von dieser Welt!" (74) sagen die Bewohner, wenn sie Iwanka wieder mit offenem Mund staunen sehen. Aber so entlegen und abgeschlossen kann der Wald gar nicht sein, dass nicht zwischendurch die Zeitgeschichte in Form ihrer Kommissare und Eroberer vorbeischaute. Eine Frau mit exterritorialen Kontakten wird Moskowiterin genannt und als Hexe behandelt. Die rote Kommissarin macht eine neue Dorfaufstellung und gliedert das Leben neu, indem sie in Unterlagen nachliest, was jetzt der neue Zeitgeist ist. Und dann kommen die Deutschen, sie reden nicht lange und nehmen die Juden mit oder erschießen sie beim Brunnen. Jetzt hat Iwanka genug gesehen, sie versucht sich zu verstecken und schreit dennoch all ihr Leid und den Wahnsinn in den Wald hinein. Mitternachtsblüte erzählt vielleicht das Wesen der Ukraine in magisch-brutaler Form. Selbst in der größten Tiefe des Waldes gibt es kein Versteck, denn ständig marschiert jemand durch das Land, das alt-slawisch "Land an der Grenze" heißt. Helmuth Schönauer
Personen: Matios, Maria Weissenböck, Maria (Übers.)
Matios, Maria:
Mitternachtsblüte : Roman / Maria Matios. - Innsbruck : Haymon, 2015. - 222 S. - Aus dem Ukrain. von Maria Weissenböck
ISBN 978-3-7099-7163-5 fest geb. : ca. Eur 19,90
Politische und sozialkritische Romane - Signatur: DR.Z Mati - Buch: Dichtung