Man kann das Buch auch ganz anders lesen: Vielleicht steckt in diesem Satz schon eine von vielen möglichen Erklärungen, warum Gaby Kreslehner zu den aktuell spannendsten deutschsprachigen Jugendbuchautorinnen und -autoren zählt. Denn der Leser hat die Wahl. Er kann der Geschichte das seit Herrendorfs „Tschick“ so hemmungslos strapazierte Etikett Road Movie aufkleben – obwohl in diesem Fall Train Movie der passendere Begriff wäre. Er kann Paul in den Mittelpunkt stellen, Paulas geistig behinderten und im Heim lebenden älteren Bruder, den sie ganz allein von dort abholen und nach Hause bringen soll. Oder Tom, die Zugbekanntschaft, in die Paula sich Hals über Kopf verliebt. Nicht nur, weil er mit seinem Sweatshirt-Ärmel diesen kleinen, beim Dösen gesponnenen Spuckefaden aus ihrem Mundwinkel wischt. Sondern auch, weil er so wunderschön Saxofon spielt. Und sich mit Paul versteht. Und versteht, wie das ist, wenn man die Schwester von Paul ist. Die kleine Schwester, die immer die große Schwester sein musste. Und ihn manchmal am liebsten verschenkt hätte. Der Tom, der gerade seinen Platz im Leben sucht, weil ihn seine Mutter zu seinem Vater abschieben will, wie er glaubt. So ließe sich „PaulaPaulTom am Meer“ lesen und es wäre alles auf seine Weise richtig. Aber gefühlt geht es, wie auch in den anderen Jugendbüchern von Gaby Kreslehner, um den mikroskopischen Blick auf die Spielarten der Liebe. Die sie wie auf unterschiedlichen Objektträgern angeordnet hat und immer unter dem Objektiv hin und her schiebt. Das hat schon ihren Debütroman „Charlottes Traum“ über eine zerbrechende Ehe und das Verliebtsein der Ich-Erzählerin Charlotte so besonders gemacht. Und auch hier sucht sie in und hinter den Beziehungen jeder einzelnen Figur nach den Fragen des Zusammenhalts, nach dem Wie und Warum. Die Eltern, die sich in ihre isolierten Welten aus Friseursalon und Tennisplatz verabschiedet haben. Die strenge Englischlehrerin, die bei ihrer neuen Liebe dort am Meer auftaucht. Und dann auch noch die Zugbekanntschaft Tom, der Paulas fragile Normalität durcheinanderbringt. Also fahren sie nicht sofort nach Hause, sondern zu dritt ans Meer: ans große, weite, sehnsuchtsvolle Meer. Dort, wo Toms Großvater lebt. Wo die wogenden Wellen jeden ein kleines Stückchen erwachsener macht. Einander näher bringt, was viel Überwindung kosten kann. Für diese Geschichte hat Gaby Kreslehner ihren typischen Ton angepasst, auf Paula zugeschnitten, ihr ein Stimme gegeben Sie variiert mit häufigen Satzbruchstücken, Satz- und Wortwiederholungen, als wolle sie die gesamte Deutschlehrerschaft gegen sich aufbringen. Aber es funktioniert: Denn wenn man die richtigen Worte nicht findet, dann nimmt man eben die ein zweites, drittes Mal, die man gerade benutzt hat. Während man nach neuen, besseren Worten sucht. Man kann dieses Buch auch so lesen: Als aufregend glitzernde Perlenkette kleiner, komplizierter Liebesgeschichten, die nur von einem dünnen Faden zusammengehalten wird. Oder, wie Paul es sagen würde: Plinkerplönker.
Personen: Kreslehner, Gabi
Kreslehner, Gabi:
PaulaPaulTom ans Meer / Gabi Kreslehner. - Innsbruck : Tyrolia, 2016. - 117 S.
ISBN 978-3-7022-3521-5 fest geb. : EUR 14,95
Gesellschaft, Psychologie, Krankheit - Signatur: JE.T Kres - Buch: Kinder/Jugend