„Marie sah einen Blitz.“ So beginnt es – und der Donner folgt umgehend. Das Gewitter trifft das Mädchen in einem Wald, in einem verkommenen Häuschen findet sie nicht nur davor Zuflucht. „Sie war lange unterwegs gewesen, irgendwann schlief sie ein.“ Schon die erste Seite lässt die LeserInnen atemlos zurück – und zugleich planlos. Sie kennen den Namen der Protagonistin, aber nicht das Woher und Wohin, wissen nicht, was passiert ist, rechnen aber mit dem Schlimmsten. Schließlich ist das Mädchen allein, hungrig und durstig, gehetzt, müde, also auf der Flucht. Und ersehnt sich, zumindest einen kurzen Moment lang den Weltuntergang, dass nämlich der Regen „alle Menschen auf der Welt ertränkt hatte. Alle außer ihr“. Marie findet bei der Schwarzen Berta Zuflucht, der „fetteste[n], hässlichste[n] Frau der Welt“, als Hexe ist sie bei Vielen im nächstgelegenen Dorf verschrien. Bei ihr bleibt Marie, hütet die paar Ziegen, schrubbt die Böden und Stiegen, bekommt dafür Essen und ein Bett. Selten treffen zwei Hauptfiguren in einem Buch zusammen, verbringen bis zur fast letzten Seite die Zeit gemeinsam an einem Ort – und reden doch so wenig miteinander. Wissen auch wenig voneinander – und kommen sich dennoch nahe. Auch die LeserInnen der personal aus Sicht Maries erzählten Geschichte erfahren wenig. Weil sie nicht nur durch das schweigsame Neben- und doch Miteinanderleben der Figuren geprägt, sondern mehrfach aufgeladen ist: Zuallererst damit, dass die Vorgeschichte auch im weiteren Verlauf nur andeutungsweise, in Bildern, Gedankenfetzen der Protagonistin, über Figuren und Motive aus Märchen- und Sagen beleuchtet wird. Ein toter Graf, der Teufel und andere Gestalten, ein Messer oder ein Märchenbuch, eigenwillige Orts- und Figurennamen durchziehen den Erzählraum, strukturieren ihn, ohne damit Eindeutigkeit zu generieren. Dass „Frau Holle“ eine Sonderrolle einnimmt, weist auf den gewaltvollen Konflikt in Maries Familie hin, Ursache und Grund ihrer Flucht, wird aber erst auf den letzten Seiten explizit gemacht. Bis dahin bleibt der ungeheure Druck auf das Mädchen hoch, auch wenn die Freundschaft mit einem Jungen aus dem Dorf für entspannte Momente sorgt und klar wird, dass Berta gut ist. Ein Mädchen, das massiv mit Gewalt in Verbindung gekommen ist, steht im Mittelpunkt der eigenwilligen Erzählung der oberösterreichischen Autorin Barbara Schinko. Die Sprachlosigkeit ihrer Protagonistin, die traumatisiert zu sein scheint, übersetzt sie in ein Bedeutungsnetz, das vieles andeutet und für Atmosphäre sorgt, aber nichts ausspricht, was eben nicht gesagt werden kann. Spannende Lektüre. FOLDER ÖKJB-Preis 2016: Ein Haus im Wald. Eine alte Frau. Ein Mädchen, das Hunger leidet. Ein Junge, der den Weg kennt. Süßer Brei. Ein Mädchen im Turm. All diese Motive scheinen bekannt und werden doch ganz neu in eine Geschichte über Schuld und Schuldgefühle eingesponnen. Marie fällt aus Zeit und Raum, als sie für einige Wochen bei der alten Berta unterkommt, die jenseits sozialer Strukturen, nicht aber jenseits sozialer Verstrickungen lebt. Marie schrubbt die Hütte, hackt Holz und hütet die Ziegen. Das heilsam einfache Leben jedoch erfährt eine geheimnisvolle Aufladung: Gemeinsam mit dem Wirtsjungen Linus und der Schlossbewohnerin Flora erkundet Marie verwunschene Orte. Und während an der Oberfläche kindliches Märchenwissen zelebriert wird, drängen sich immer deutlichere Schreckensbilder in Maries Wahrnehmungen. Wie aber lässt sich eine Versöhnung mit der Vergangenheit herbeiführen? Kann ein Kuss der wahren Liebe helfen? Eindringlich wird die Geschichte eines Mädchens erzählt, das an der Schwelle von der Kindheit zum Erwachsenwerden steht.
Personen: Schinko, Barbara
Schinko, Barbara:
Schneeflockensommer / Barbara Schinko. - Innsbruck : Tyrolia, 2015. - 156 S.
ISBN 978-3-7022-3484-3 fest geb. : ca. € 14,95
Gesellschaft, Psychologie, Krankheit - Signatur: JE.T Schin - Buch: Kinder/Jugend