Es sind oft kleine Gesten, die ein kollektives Bewusstsein der Solidarität formen und auch nach Jahrzehnten noch eine Gesellschaft zusammenhalten. In den 1980er Jahren tritt Michael Köhlmeier neben seiner schriftstellerischen Arbeit vor allem als Märchen- und Sagenerzähler an die Öffentlichkeit. Der intime Vorgang des Erzählens leidet überhaupt nicht darunter, dass plötzlich CDs angeboten werden und die Stimme über den Rundfunk in alle Wohnzimmer kriecht. Auch wenn sich das Publikum nach Jahrzehnten nur mehr vage an die einzelnen Geschichten erinnern kann, dieses Bewusstsein bleibt: Ein ganzes Land hört Sagen und Märchen und denkt sich dabei eine gute Zukunft aus. Die Serie "Haymon schwärmt" beginnt Michael Köhlmeier mit einer Liebeserklärung an das Märchen. Das Schwärme-Buch berichtet von den Brüdern Grimm, verwendet die coole Abkürzung KHM für Kinder- und Hausmärchen und hantiert mit einprägsamen Fügungen, wonach die Märchen die Primzahlen der Literatur sind. In 39 "Schwärmen" fliegt das Herz des Autors aus, um etwas von den Märchen zu entdecken und davon zu berichten. Er erzählt von seinen ersten Märchen und der absurden Genauigkeit, mit der sich der Stoff in der Erinnerung Platz verschafft hat. Im Märchen nämlich versteht man die Zusammenhänge von Liebe, Macht und Tod, ohne dass man die fachlichen Begriffe dafür hätte. Ein Märchen kann also eine Psychotherapie mit einem machen, ohne dass eine einzige Störung der Seele dafür notwendig wäre. Einen Schwerpunkt des Schwärmens stellt natürlich die Romantik dar, die eine ewig junge Strömung ist, obwohl sie viele deutsche Gene in sich trägt. Hier berichtet der Autor, wie diese Romantik als Urmutter der Grimmschen Märchen durchaus auch von der braunen Ideologie vereinnahmt worden ist. Aber das Märchen geht durch die politischen Krallen unbeschadet hindurch, die zu jeder Zeit nach ihm ausgefahren werden. Die Wirkungsweise der Märchen lässt sich am besten an Märchenbeziehungen zeigen. Der Autor hat seit Kindestagen mit seinem Verwandten Richard Märchen erzählt und "ausprobiert". Auch dieser Richard ist mittlerweile pensionierter Lehrer, aber in den Märchen ist er das Kind von damals geblieben. Ein großes Problem für Richard war immer, dass er die Märchen oft anders haben wollte, als sie gerade erzählt worden sind. Und da kennen Märchen keinen Pardon: Ist das Ei einmal geschält, kann man es nur mehr essen, man bringt es nicht in die Schale zurück. Es lassen sich auch keine Helden mehr zum Leben erwecken, wenn sie einmal als tot erzählt sind, müssen sie tot bleiben. Und so weiter. Natürlich kann man am nächsten Tag das Märchen wieder neu erzählen, aber man muss es an der richtigen Stelle zu Tode bringen. - Eine verrückt tolle Schwärmerei, die die ganze Literatur zum Schwingen bringt. Helmuth Schönauer
Personen: Köhlmeier, Michael
Köhlmeier, Michael:
Von den Märchen : eine lebenslange Liebe / Michael Köhlmeier. - Innsbruck : Haymon, 2018. - 206 S.
ISBN 978-3-7099-3423-4 fest geb. : ca. Eur 20,00
Romane, Erzählungen, Novellen - Signatur: DR Köhl - Buch: Dichtung