Der Dramaturg mit Tarnkappe in der Zeitmaschine Wilfried Steiners neuer Roman "Die Anatomie der Träume" Das Einzige, was Konrad Pinetti von seinem italienischen Großvater geblieben ist, ist der Familienname. Man könnte das beinahe für eine kleine ironische Volte des Schicksals halten, für leisen Spott. Denn da mag noch so sehr ein Viertelanteil italienischen Bluts in eines Mannes Adern fließen, zum sprichwörtlichen Latin Lover macht ihn das noch lange nicht! Konrad Pinetti jedenfalls ist in Liebesbelangen eher hölzern. Ja, eine gewisse Beziehungs-Versiertheit hat er sich erworben, denn er hat zwanzig Ehejahre mit Renate zu einem freundschaftlichen Ende gebracht. Doch Pinetti gehört zu den grundsympathischen Männern, die nicht das geringste Gespür für die eigene Wirkung auf Frauen besitzen und sich nicht und nicht vorstellen können, dass das wunderbare weibliche Gegenüber, in das sie sich so schwärmerisch, herzklopfend und im Geheimen verliebt haben, ihnen ebenfalls Interesse entgegenbringen könnte. Im Fall der spitzbübischen, verschmitzten Irene Augustin, Autorin des Buchs Das Jahrhundert der Seele oder Die Schlacht um die Träume, kommt erschwerend hinzu, dass Pinetti von einem Verhältnis dieser ihn so magisch anziehenden Sommersprossigen mit seinem Chef Fehringer überzeugt ist. Fehringer ist Direktor des "Wiener Publikumstheaters", ein Mann mit einem "untrüglichen Sinn für Theatererfolge", Konrad Pinetti ist der Dramaturg des Hauses und beseelt von einem altmodischen Desinteresse an Dingen wie Massengeschmack und Auslastungszahlen. Dass Fehringer nun von ihm verlangt, das ganz und gar für jede Dramatisierung ungeeignete Sachbuch von Irene Augustin in bühnentaugliche Dialoge umzuwandeln, will ihm aus mehr als einem Grund nicht einleuchten. Das ist in etwa die Ausgangssituation in Wilfried Steiners neuem Roman Die Anatomie der Träume. In gewisser Weise begibt sich Steiner mit der Geschichte, die er in diesem Buch erzählt, in sein ureigenstes Milieu. Denn außer Schriftsteller ist Steiner auch künstlerischer Leiter des "Posthofs" in Linz und weiß deshalb ziemlich genau um die Stimmung in einem Bühnenhaus und vor allem in einer Bühnenkantine Bescheid. In der Anatomie der Träume spielt die Theaterkantine als Treffpunkt eine ebenso wesentliche Rolle wie Kaffee- und Gasthäuser. Was dort in wechselnder Belegschaft gesprochen wird, treibt die Handlung voran - und diese ist insgesamt nicht ganz leicht zu erklären, weil aus mehreren Ebenen zusammengesetzt. Genauer gesagt: Es gibt gut und gerne drei Romane in diesem Roman. Noch genauer gesagt: Da ist die entzückende Geschichte der Anbahnung einer Liebesgeschichte zwischen Pinetti und Irene Augustin plus das sie umgebende Theaterleben mitsamt der Entstehung einer eigenwilligen King-Lear-Inszenierung. Dann sind da die Ausschnitte aus Irene Augustins Das Jahrhundert der Seele, in dem es um Sigmund Freud und die Wirkung der Psychoanalyse auf die Künstler seiner Zeit geht. Und schließlich, als Drittes, gibt es noch jene Dialogszenen, die Konrad Pinetti auf Basis von Irene Augustins Buch für ein Bühnenstück entwickelt. Klingt kompliziert? Ist es auch. Aber eigentlich nur, wenn man versucht, es zu beschreiben, und nicht, wenn man es liest. Beim Lesen hält man sich ganz einfach an Wilfried Steiners Protagonisten Pinetti: Pinetti ist der, der kapitelweise Irene Augustins Buch über Freud und Rilke, über Freud und Mahler, über Alma Mahler und Walter Gropius oder über die Surrealisten rund um Breton liest. Er ist der, der sich darüber Gedanken macht. Eine tiefromantische Überlegung treibt Pinetti dabei besonders um, "nämlich die Gefährdung der schöpferischen Kraft durch die Therapie". Genau diese Angst ließ Rilke Abstand von einer möglichen Analyse nehmen und auf Distanz zu Freud bleiben. Er fürchtete, dass auch seinen "Engeln ein kleiner Schrecken geschähe", wenn man ihm seine Teufel austriebe. Auch Pinetti findet sich in einer kreativen Situation, die seine Besorgnis erregt. Er soll ein Sachbuch zur Geschichte der Psychoanalyse dramatisieren und verliebt sich gleichzeitig in dessen Autorin. Das macht ihm die Lektüre ihres Buchs interessanter, erschwert aber die gemeinsame Arbeit an der Szenenentwicklung. Dramaturg Pinetti gerät zwischen einer anspruchsvollen, begehrten Autorin und einem schwärmerischen Theaterdirektor ziemlich ins Schwitzen: "Ich hatte den Eindruck, meine Aufgabe wäre ab sofort nicht nur, einen möglichst gewitzten Dialog zwischen Mahler und Freud zu erfinden, sondern irgendwie herauszubekommen, was damals wirklich gesagt worden war. Der Dramaturg mit Tarnkappe in der Zeitmaschine." Wie nun soll man Wilfried Steiners Roman lesen? In jedem Fall als eine Geschichte, in der es um die Liebe zur Kunst geht - zum Theater ebenso wie zur Literatur und vor allem zur Musik. Wenn Pinetti Mahler hört, ob zuhause oder im Konzertsaal, gehen die Assoziationen mit ihm und seinem Erfinder Wilfried Schneider durch. Schön ist es, von einer so tiefen Ergriffenheit durch die Musik zu lesen. Natürlich ist Pinetti vor allem eine literarische Figur. Im wirklichen Leben wird vermutlich nicht in so ausgefeilten und durchchoreographierten narrativen Abläufen hinter jedem einzelnen Klang von Mahlers "Zweiter" hergefühlt, aber die Literatur darf das und man folgt dem mit großem Vergnügen - und vielleicht auch mit ein bisschen Sehnsucht. Wäre man doch selbst so empfindsam wie dieser Pinetti! So stark zu bewegen wie er durch eine Geste, einen Ton oder das kleine, von einem Kranz feiner, rotblonder Härchen umgebene Muttermal auf Irene Augustins Schulter ("Es musste himmlisch sein, mit den Fingerkuppen sacht darüberzustreichen, einen Millimeter über der Haut"). Man sieht es schon: Pinetti hat es nicht leicht. Er ist der Intellektuelle im Leib des Romantikers. Erst ganz zum Ende des Buchs macht man sich bewusst, wie elegant Wilfried Schneider die unterschiedlichsten Themen, Erzählstränge und Motive seines Romans ineinander verwoben hat. Keiner der vielen in diesem Roman ausgerollten Fäden läuft ins Leere. Alles findet zueinander - und das muss einem erst einmal gelingen. Nicht nur in seiner Struktur ist Anatomie der Träume eine Herausforderung. Denn es arbeitet mit Verschachtelungen, Einschüben und Umwandlungen und springt noch dazu zwischen der Gegenwart, in der Pinetti schreibt und liebt, der Vergangenheit rund um Freud und der Ebene fiktiver Theaterdialoge hin und her. Dass daneben auch noch an Pinettis Wiener Theater "King Lear" inszeniert wird und man als Leser sowohl mitbekommt, was auf als auch was hinter der Bühne zwischen Schauspielern, Technik und Regie passiert, wundert einen bei dieser halsbrecherisch vielschichtigen Versuchsanordnung dann gar nicht mehr. Es ist Wilfried Schneider zu verdanken, dass die komplizierte Konstruktion nicht auf die Stimmung drückt. Der Ton seines Buchs bleibt ganz erstaunlich leicht und verspielt. Das liegt sicher an seinem Helden Pinetti. Er ist klug und zu tiefen Gefühlseindrücken fähig, doch er fühlt sich ungelenk und unsouverän. Das macht aus ihm einen literarischen Charakter, mit dem man es gern zu tun hat. Wie ihn juckt auch uns gern der Rollkragenpullover am rot angelaufenen Hals, wenn wir den Eindruck haben, unser Gegenüber könnte etwas ganz anderes von uns denken, als wir es uns wünschen. Ach, so ein Missverhältnis zwischen Innen- und Außenwahrnehmung! Davon ist Pinetti angetrieben - und von seinen Träumen davon, wie schön es sein könnte, wenn er ein anderer und Irene Augustin nicht die Geliebte seines Chefs wäre. Schon sieht er sich mit ihr im Attersee plantschen! Pinetti ist auf jeden Fall ein herrlich Untherapierter mit einer ganz eigenen Kopfwelt, die so wunderbar passt zu den Ideen-Träumen und Räumen der vielen berühmten Zeitgenossen von Freud, die in diesem Roman eine Rolle spielen. Hier darf alles "traumhaft" bleiben. Oder wie Buñuel es in einem von Pinetti erfundenen Dialog zu Freud sagt: "Sie, Herr Professor Freud, erstreben nichts Geringeres als die Anatomie der Träume. Und dabei vergessen Sie, dass etwas erst tot sein muss, bevor man es sezieren kann. Es sein denn, man praktiziert Vivisektion. In jedem Fall ist der Traum am Ende seiner Erforschung nicht mehr am Leben." Am Ende von Wilfried Steiners Roman ist er das schon noch.
Personen: Steiner, Wilfried
Steiner, Wilfried:
¬Die¬ Anatomie der Träume : [Roman] / Wilfried Steiner. - [Wien] : Metro-Verl., 2015. - 269 S.
ISBN 978-3993002060 : ca. EUR 24,90
Romane, Erzählungen und Novellen - Signatur: DR Stein - Buch