Fesselnd, vielschichtig und tieftraurig. Gabrielle ist sechzig Jahre alt, seit den Waldheim-Demonstrationen mit Joe, einem frühpensionierten, kunstsinnigen Lehrer verheiratet und als anerkannte Richterin in Wien vorwiegend mit Asylrecht befasst. Während sie beruflich Souveränität auszeichnet, ist sie im privaten Bereich leicht verunsicherbar. Die Selbstdiagnose ihrer Augenkrankheit belastet sie für Monate, ebenso leidet sie unter dem Verhältnis zu ihrem drogensüchtigen Bruder Karl, der für Jahre untergetaucht war und sich nun als Mitarbeiter des Roten Kreuzes in Kabul wieder bei ihr meldet. Als sie ihren Mann, der sie bedingungslos liebt, in ihren Kleidern putzen sieht, findet sie vorerst keinen Weg, damit umzugehen. Außerdem erhält sie wegen eines Falls Personenschutz und fühlt sich zusehends verfolgt. Neben dem Psychogramm dieser Frau, deren Leben von ihrer Kinderlosigkeit und Karriere geprägt ist, wird auf einer weiteren Ebene ihre Familiengeschichte behandelt, vor allem der mysteriöse Tod des in einen Waffenhandel involvierten Vaters. Brandaktuell werden diese Ebenen in ein zeithistorisches Setting eingebettet, das die Pandemie, das Asylrecht unter besonderer Berücksichtigung der Situation von Afghanen in Österreich sowie in Afghanistan und das Geschlechterverhältnis hierzulande thematisiert. Aktuell, inhaltlich und sprachlich anspruchsvoll und spannend, zeichnet sich der Roman durch Intertextualität und Referenzen zu Borges bis Brueghel aus, ohne sperrig oder aufgesetzt zu wirken. Eine literarische Bereicherung!
Personen: Mischkulnig, Lydia
DR
Mis
Mischkulnig, Lydia:
¬Die¬ Richterin : Roman / Lydia Mischkulnig. - 2.Auflage. - Innsbruck : Haymon, 2021. - 289 Seiten
ISBN 978-3-7099-8110-8 Fest gebunden : ca. € 22,90
DR - Schöne Literatur