Er ist eine stattliche Erscheinung: der Porzellanhase Edward Tulane. Groß, schön, strahlendweiß, mit den blausten Augen, Ohren aus echtem Fell und gestärkten Schnurrbarthaaren. Ein edles Spielzeug, ein Sir-von-und-zu, von dem Mädchen Abilene innig geliebt. Aber ein Kuschelhase ist er nicht. Eher ein ziemlich eingebildeter Pinkel. Das Herz schon allein deswegen nicht auf dem rechten Fleck, weil ihm das ja genau fehlt: ein Herz, das schlägt. Und spürt. Doch dann macht sich die Familie Tulane auf, per Schiff nach London, mit an Bord der Hase. Und damit beginnt die wundersame Reise, die für Edward mit einem Flug anfängt (über die Reling nämlich) und einem tiefen Fall (bis auf den Meeresgrund). Eine Reise, bei der er lernt, was es heißt, Angst zu haben, traurig zu sein - und dass man manchmal nur vermissen kann, was man verloren hat. Eine Reise, bei der er mehr als einmal beinahe sterben wird (bloß: wie stirbt ein Hase aus Porzellan?), so viele Namen bekommt, wie er bei Menschen strandet, und jedes Mal ein anderer wird: Susanna, das Hasenmädchen, für die Fischerfrau Nellie; Malone, ein Vogelfreier, für den Landstreicher Bull; Clyde, eine Vogelscheuche, für die alte Frau; schließlich Jangles für die kleine Sarah Ruth, die im Sterben liegt. Und sterben wird. Der größte Verlust. Danach, so glaubt Edward, kann ihm nichts mehr widerfahren. Wie ein Hiob unter den Hasen ist ihm alles egal. Bis nicht nur sein Herz in tausend Teile zersplittert ist, sondern auch sein Porzellankopf. Aus und vorbei? Nein. Denn Kate DiCamillo hat ein Es-war-einmal-Märchen mit gutem Ausgang geschrieben. Mit den so poetischen wie weisen wie klaren wie schrecklich schönen Sätzen über die Liebe und das Leben (von Siggi Seuß mit allem gebührenden Respekt, Einfühlungsvermögen und auch Witz ins Deutsche übertragen) und den altmeisterlichen Zeichnungen von Bagram Ibatoulline ist daraus ein Gesamtkunstwerk geworden. Und das erzählt in Wort und Bild von einer wahrhaft wundersamen Reise, weil es ums Unterwegssein geht, um Abschied, Wiederfinden, Ankommen - wirklich daheim. Und das heißt ja auch: bei sich selbst. Um Glück, Unglück und die Wunder der Rettung. In einem Märchen über die Liebe, in dem einer erst alles verlieren muss, um zu guter Letzt doch noch zu gewinnen: Erfahrungen, Freunde. Und ein Herz, das schlägt. Weil nur der, der selbst zu lieben gelernt hat, geliebt werden kann. "Das Herz bricht. Immer und immer wieder. Und es lebt, weil es bricht", hat DiCamillo ihrem Märchen vorangestellt. Hier liest sich das nicht wie eine Drohung, sondern wie eine Möglichkeit.
Personen: DiCamillo, Kate Ibatoulline, Bagram Seuß, Siggi
DiCamillo, Kate:
¬Die¬ wundersame Reise von Edward Tulane / Kate DiCamillo. Mit Bildern von Bagram Ibatoulline. Deutsch von Siggi Seuß. - Hamburg : Dressler, 2006. - 136 S. : Ill.
ISBN 978-3-7915-2802-1 fest geb. : ca. EUR 13,30
Erzählungen und Romane - Signatur: JE DiC - Buch: Kinder/Jugend