De Leeuw, Jan
Eisvogelsommer
Buch: Dichtung

Der 15-jährige Thomas ist - kurz nachdem er sich heftig in die gleichaltrige Orphee verliebt hat - bei einem Unfall ums Leben gekommen. Trotz seines Todes oder gerade deswegen ist er der Erzähler von Jan De Leeuws äEisvogelsommerô. Wie einst Edgar Wibeau in Ulrich Plenzdorfs äDie neuen Leiden des jungen W.ô erzählt Thomas aus dem Jenseits davon, was vor seinem Tod passiert ist und wie die Lebenden auf jeweils eigene Weise versuchen, das tragische Ereignis zu bewältigen. Anders als bei Plenzdorf, wo der tote Protagonist einen schnoddrigen Ton anschlägt und dem Roman damit jegliche Melodramatik nimmt, taucht Thomas in einer bildreichen, lyrischen Sprache tief ab in Gefühlswelten, die ihn wie beim ersten Sex mit Orphee in ein erzählerisches Stakkato treiben können: äIch muss tastend weiter, meine Finger laufen über deine abschüssige Landschaft, fast außer Atem, aber nicht hügelmüde, zu neugierig, zu begierig nach diesem neuen Land, ein Tourist ohne Karte, aber bereit für das Abenteuer (...).ô Auch sein dem Tode naher Großvater erzählt mit düsteren Parabeln voller Allegorien - wie dem Eisvogel - von Verlust, Trauer und Schmerz. Schließlich ist die Poesie für den Großvater, der den Selbstmord seiner Frau nie verwunden hat, das einzige Mittel, um das Leben ohne sie auszuhalten und das Unerklärliche in Worte zu kleiden. Seine Tochter, ThomasÆ Mutter, hat es ihrem Vater allerdings nie verziehen, dass er ihr nicht die Wahrheit über den Tod ihrer Mutter gesagt hat, sondern nur Lügen auftischte. Ihrerseits hat sie aus dem Zimmer ihres Sohnes ein Museum gemacht, und weil ThomasÆ Vater diesen Erinnerungskult missbilligt, zieht sie aus, nimmt alle Sachen mit und richtet das Zimmer in ihrer neuen Wohnung genauso ein. Die Szenen einer Ehe, die durch den Verlust des Sohns zu zerbrechen droht, hat De Leeuw, der auch als Psychologe arbeitet, im Vergleich zum Rest des Romans nüchtern gestaltet. Thomas, der seine Liebesbeziehung zu Orphee trotz einiger Schwierigkeiten für etwas ganz Besonderes hält und sich stark mit seinem Geschichten erzählenden Großvater identifiziert, bleibt überraschend distanziert, wenn es um seine Eltern geht. Die ständig wechselnden Positionen legen einerseits die Schwäche eines Erzählers bloß, der immer wieder hinter anderen Figuren verschwindet, sodass der Roman recht uneinheitlich wirkt. Andererseits zeichnen sich im Wechsel der Perspektiven und der Generationen individuelle Wege ab, die Menschen, allesamt als Touristen ohne Karte im Leben unterwegs, einschlagen, um doch irgendwie mit der Unbegreiflichkeit des Todes umzugehen. Davon eine wie auch immer wahre Geschichte zu erzählen kann wohl einer dieser Wege sein.


Dieses Medium ist verfügbar. Es kann vorgemerkt oder direkt vor Ort ausgeliehen werden.

Personen: Erdorf, Rolf De Leeuw, Jan

De Leeuw, Jan:
Eisvogelsommer / Jan De Leeuw. Aus dem Niederländ. von Rolf Erdorf. - Hildesheim : Gerstenberg, 2016. - 249 S.
ISBN 978-3-8369-5841-7 fest geb. : ca. Eur 17,50

Zugangsnummer: 0017612001
Romane, Erzählungen und Novellen - Signatur: DR DE L - Buch: Dichtung