Das hat mich (und viele andere sicher auch!) schon in der Schule gestört: Dass Geschichte sich meist nur mit den Dingen beschäftigt, die uns eigentlich recht fern sind, selbst wenn sie uns treffen: Jahreszahlen, Schlachten, Kriege, Könige und Präsidenten, ganze Länder und Ar-meen, dazu vielleicht Siege und Katastrophen der Wirtschafts- und Finanzwelt. Ist das unser Alltag? Können wir aus diesen globalen Blickwinkeln Lehren ziehen und unser eigenes Verhalten ändern? Gibt es da nichts, was uns näher ist? Doch, gibt es. Denn hinter diesen großen, anonymen Vorgängen, Entscheidungen und Ereignissen stecken doch immer auch Menschen, und betroffen sind sowieso meist in erster Linie gerade die "normalen" Menschen, Menschen wie du und ich, sie müssen ausbaden, was am Schreibtisch oder im Planungsstab ersonnen, beschlossen und befohlen wird. Nur berichtet davon die Geschichtsschreibung eher selten, beginnt sich die historische Wissenschaft und Forschung erst allmählich dafür zu interessieren. Dabei ist das Schicksal des Einzelnen viel wichtiger und bedeutungsvoller als das "große Ganze", denn es ist konkret und direkt fassbar und nicht nur eine Gedankenspielerei. Nah statt fern. So hat John Boyne den Titel seines neuen Buches sicher nicht in erster Linie gemeint, obwohl auch davon etwas mitschwingt. Es ist die Geschichte des Alfie Summerfield, der mit seiner Familie in London lebt und am Tag des britischen Kriegseintritts, am 28. Juli 1914, seinen 5. Geburtstag feiert. Er wird diesen Geburtstag niemals vergessen, denn sein ganzes Leben verändert sich mit einem Schlag: Sein Vater meldet sich freiwillig zum Militär, in der Folge werden seine tschechisch-stämmigen Freunde in die Internierung deportiert, seine Mutter muss irgendwie für den Lebensunterhalt der Restfamilie sorgen, und Alfie selbst wird in den Kriegsjahren gezwungenermaßen schnell ins Erwachsenenleben katapultiert. Was hatte er zuvor für eine angenehme Zeit! Alle kümmerten sich liebevoll um ihn, ungewöhnlich wenig autoritär für die Zeit um die Jahrhundertwende, die Familie war zwar alles andere als reich, aber sie hatte ein Häuschen und ihr Auskommen. Und in ihrer Straße waren alle miteinander befreundet und vertrugen sich bestens. Plötzlich ist alles anders. Die ersten Männer fallen im Krieg, ein Kriegsdienstverweigerer muss ins Gefängnis und wird von allen nur noch verachtet, Neid, Missgunst und nervöses Misstrauen beherrschen die Szene. Wir erfahren von all dem nur aus der Sicht des Jungen, der alles registriert, aber vieles nicht versteht, der sich Sorgen und Gedanken macht, vor allem als sein Vater plötzlich keine Briefe mehr schickt von der Front in Frankreich. Ist er etwa gefallen und tot? Ist er nicht, doch ist das Ergebnis wirklich besser? Und was kann er tun, um die Dinge wieder "ins Lot" zu bringen? Um das zu erfahren, müssen wir das Buch lesen - und es lohnt sich wahrhaftig! Boyne findet auch dieses Mal wieder die richtigen Details, die passenden Worte, den angemessenen Ton, um uns auf jeder Seite mit Alfie bangen, hoffen und leiden lassen, denn all das macht der Krieg mit den Menschen, ob sie die Dinge nun verstehen oder nicht. Vier Jahre dauert der Weltkrieg, das wissen wir, aber Alfie weiß es nicht, er wird neun Jahre alt sein, bis die Kämpfe vorüber sind. Und bis die Folgen überstanden sind? Das weiß der Himmel, hoffentlich. Wir wissen am Ende jedenfalls weitaus intensiver als von jeder Datensammlung, was der Krieg bedeutete, was er in und mit den Menschen anrichtete, die ihn manchmal anfangs noch als heroische Bewährungsprobe mit raschem Ende "noch vor Weihnachten" begrüßten. Und Boyne gelingt es, uns zwischendurch vergessen zu lassen, dass es sich um den Krieg vor hundert Jahren handelt. Er bleibt bei vielem so zeitlos, dass wir ahnen: So war es immer schon bei Kriegen, so wird es auch immer sein, auch heute noch. Und ohne es auszusprechen liefert er ein flammendes Plädoyer gegen jeden Krieg und für ein friedliches Zusammenleben. Dieses Buch ist so eindringlich wie unaufdringlich, viele Stellen sind so schön, dass es beim Lesen weh tut. Wie immer bei Boyne: Seine Kunst ist die Zurücknahme, großes Gefühl ohne große Worte, Kraftfutter für das Kopfkino. Und, um den Titel noch einmal zu "missbrauchen": Niemand ist so fern, dass uns sein Schicksal nicht nahe gehen sollte, und was uns anscheinend ganz fern liegt, kann uns morgen schon allzu nah sein. Wir haben es in der Hand. Danke, John Boyne!
Personen: Jakobeit, Brigitte Boyne, John Tichy, Martina
Boyne, John:
So fern wie nah / John Boyne. Aus dem Engl. von Brigitte Jakobeit und Martina Tichy. - Frankfurt a. M. : Fischer KJB, 2014. - 253 S.
ISBN 978-3-596-85650-3 fest geb. : ca. EUR 13,40
Erzählungen und Romane - Signatur: JE BOY - Buch: Kinder/Jugend