Wenn eine Berühmtheit etwas sagt, können auch sogenannte blöde Sätze äußerst wertvoll werden. Der Sager "Innsbruck selbst ist eine unwohnliche, blöde Stadt" wird zwar für richtig gehalten und tausendmal am Tag ausgesprochen, aber erst dass dieser Satz von Heinrich Heine stammt, macht ihn so wertvoll. Bernd Schuchter geht mit seinem "Bummel durch Tirol" der Frage nach, wie man ein Stück Klassiker lesen könnte, ohne dass man dafür eine Prüfung ablegen müsste. Am Beispiel von Heinrich Heines Reisebildern aus dem Jahre 1830 zeigt er, wie die Leserschaft der Gegenwart mit einem beinahe zweihundert Jahre alten Text umgehen könnte, nämlich durch Herausdestillieren von Reizwörtern und Reizsätzen. Da Heinrich Heine auf so ziemlich alles im ersten Reflex sehr gereizt reagiert hat, ist er ein idealer Baustein für die Rekonstruktion einer gereizten Reise durch die Alpen. Dabei kommen Orte wie Innsbruck, Brixen oder Trient mit schönen Sätzen zum Handkuss, die es locker auf jede moderne Tourismus-Homepage schaffen. So gibt es in Brixen angeblich echte Jesuiten zu sehen, die in jener Zeit teilweise schon als ausgestopft und historisch gelten. Die Rezeption von Theaterstücken lässt generell zu wünschen übrig, eine Opera buffa wird nicht gerade auf der Höhe der Zeit aufgeführt. Heinrich Heine erweist sich als Kritiker, der nach Möglichkeit heimische Historiker und Rezensenten für seine Einschätzungen des Geisteslebens heranzieht. Geradezu klassisch ist sein Urteil, wonach es die Tiroler lieber mit den Geschichten als mit der Geschichte halten, weshalb die Dichter viel höher eingeschätzt werden als die Historiker. Erst wenn man die beinahe haptisch ausgefeilten Sätze über das Reisen in dieser klugen Auswahl liest, merkt man den Unterschied zwischen der damals üblichen analogen Vorgehensweise und den heutzutage üblichen Display-Wischern im Tourismus. Natürlich ist das Stilmittel des "Reiseerlebnisses" bei Heine wohl durchdacht und künstlerisch durchkomponiert. Schimpfen über eine blöde Stadt, Starren in einen fremden Busen und Würdigung einer diffusen Witterung sind sorgfältig gesetzte Akzente in einem fiktionalen Text. Die Zitate der zeitgenössischen Historiker Hormayr oder Sartorius wirken beinahe wie Selfies, mit denen sich Heine in den Alpen sehen lässt. Bummel durch Tirol, ein Titel, der auf eine Anregung Mark Twains zurückgeht, ist in dieser Ausstattung und im liebevollen Sich-Zurechtmachen für das Publikum tatsächlich eine Preziose, wie jene Serie heißt, in der sie erschienen ist. Helmuth Schönauer
Personen: Heine, Heinrich Schuchter, Bernd
Standort: Bibliotheksreferat
Heine, Heinrich:
Bummel durch Tirol : Reiseerlebnisse / Heinrich Heine. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Bernd Schuchter. - Innsbruck : Limbus, 2016. - 71 S.
ISBN 978-3-99039-082-5 kart. : ca. € 7,00
Romane, Erzählungen und Novellen - Signatur: DR Hei - Belletristik