Maik Klingenberg sitzt "vollgeschifft und blutig auf der Station der Autobahnpolizei", fällt vom Sessel und erwacht nahezu glücklich in einem Krankenhausbett. ("Das Glück, stellt sich später heraus, heißt Valium. Es wird mit großen Spritzen verteilt.") Mit dem Vorgriff auf das Ende beginnt Wolfgang Herrndorf seinen Roman über die Reise zweier jugendlicher Helden. Aber das schadet der Lektüre nicht, im Gegenteil, wenn man von Anfang an weiß, wo man am Ende unweigerlich ankommen wird, liest man vielleicht ein bisschen langsamer. Und das sollte man, schließlich ist "Tschick" einer der unterhaltsamsten deutschen Romane aus dem Bücherherbst 2010, wie die literarische Kritik einhellig meint: Es sei ein "schlechterdings wundervoller Roman", was die beiden Jungen auf ihrer Reise sehen und erleben, sei "randständig, exzentrisch, traumhaft poetisch, magisch, oft unheimlich, noch öfter sehr komisch" (G. Seibt schwärmerisch in der SZ), man wolle gar nicht, dass er aufhöre, er erinnere einen an die Jugend, die man hatte oder wenigstens gern gehabt hätte. So langsam die Kritik diesen Roman wahrgenommen hat, so nachhaltig hat sie ihn gelobt und zurecht ist er jetzt auch schon in der 6. Auflage. Dabei ist der Plot nicht wirklich neu: Zwei Außenseiter - der Russlanddeutsche Andrej Tschichatschow, genannt Tschick, und der wohlstandsverwahrloste Maik Klingenberg - treffen in der Schule aufeinander, was ein paar sehr komische Schulszenen möglich macht, klauen zu Beginn des Sommers ein Auto (einen Lada!), fahren von Berlin Richtung Süden und werden nach einigen Tagen von der Polizei nach einem Unfall wieder eingesammelt. Die Ausgestaltung seiner sehr sympathischen Helden aber und die Abenteuer, die sie erleben, die komischen Figuren, die sie auf ihrer Fahrt durch die wundersam als Wilder Westen inszenierte ostdeutsche Landschaft treffen, und vor allem der Ton, in dem Herrndorf seinen Ich-Erzähler die Reise schildern lässt, macht "Tschick" originell und außerordentlich. Er erzählt in einem künstlichen Jugendjargon, der leichtfüßig, gewitzt, schnoddrig und berührend zugleich ist, der immer authentisch wirkt, würde man gern sagen, wäre das Wort authentisch nicht so abgenützt. Vor allem auch in den feinen Dialogen zeigt sich, dass Herrndorf seiner Prosa auch soziale Färbung mitgeben kann, ohne dass es aufgesetzt wirkt. Es könnte hier noch viel über Motive und literaturgeschichtliche Bezüge gesprochen werden, über Schul- und Coming-of-Age-Romane, über Road-Fiction und Mark Twains "Die Abenteuer des Huckleberry Finn", das alles wäre gut und richtig (und ist ja auch in vielen Besprechungen nachzulesen). Am wichtigsten aber ist vielleicht der Hinweis darauf, dass hier ein Autor nicht nur unterhaltsam und klug schreiben kann, sondern dass er seine Helden - und die Menschen insgesamt - mag. Dies durchzieht als Grundtenor den Roman und wird am Ende der Reise von Maik explizit ausgesprochen: "Seit ich klein war, hatte mein Vater mir beigebracht, dass die Welt schlecht ist. Die Welt ist schlecht, und der Mensch ist auch schlecht. Trau keinem, geh nicht mit Fremden und so weiter. Das hatten mir meine Eltern erzählt, das hatten mir meine Lehrer erzählt, und das Fernsehen erzählte es auch. […] Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war. […] Auf so was sollte man in der Schule vielleicht auch mal hinweisen, damit man nicht völlig davon überrascht wird."
Personen: Herrndorf, Wolfgang
Standort: Bibliotheksreferat
Herrndorf, Wolfgang:
Tschick : Roman / Wolfgang Herrndorf. - 7. Aufl. - Berlin : Rowohlt Berlin, 2011. - 253 S.
ISBN 978-3-87134-710-8 fest geb. : ca. € 17,50
JE Erzählungen - Signatur: JE Erzählungen Her - Kinder und Jugend