Welt- und Zeitgeschichte im Doppelpack / Robert Menasses Roman »Die Vertreibung aus der Hölle« Beachtlich ist an Robert Menasses viertem Roman vor allem die gedankliche Substanz, die Fülle an Wissen, die Flexibilität, mit der er spröde Gelehrsamkeit in den Dienst der schönen aufgeklärten Fiktion stellt. 'Die Vertreibung aus der Hölle" ist ein enormes Kompendium über religiöse und ideologische Intoleranz, ein vernünftiger Beitrag zur laufenden Debatte um Sinn und Leichtsinn des Vergessens in der Geschichte. - Aber selbst so ein Koloß von fünfhundert Seiten und tausend Ideen ergibt nicht automatisch einen großen Roman, wenn die formale Konstruktion und die sprachliche Dichte so weit hinter dem inhaltlichen Aufwand zurückbleiben. Kunst soll laut Hegel »das sinnliche Scheinen der Idee« sein. In diesem Roman von Robert Menasse, dem Kenner von Hegel und der Zeitgeschichte, überflügelt jedoch der Denker den Dichter bei weitem, so daß der raffinierte Weltgeist streckenweisen auf einem klapprigen Pegasus sitzt. 'Die Vertreibung aus der Hölle" handelt auf der ersten Erzählebene vom Leben des Rabbiners Manasseh, der 1604 in Lissabon geboren wurde und als Kind aus dem Portugal der Inquisition entkommen konnte, der in der jüdischen Gemeinde von Amsterdam als Gelehrter zu Ansehen gelang und Lehrer des Wunderkindes Spinoza wird. Auf einer zweiten Ebene wird die Kindheit und Jugend von Viktor Abravanel erzählt, der 1955 in Wien als Sohn jüdischer Eltern zur Welt kommt, in einem jesuitischen Internat erzogen und später Dozent für Geschichte wird. Was diese beiden Lebensläufe miteinander zu tun haben, mit ihren vielen suggerierten Parallelen, das wird erst im Verlauf einer zusätzlichen Rahmenhandlung und viel zu spät erklärt: Bei einem Maturatreffen 1999 in Wien kommt es zum Eklat, weil Viktor in einer Rede die (teilweise erfundene) Nazi-Vergangenheit seiner Lehrer denunziert. Nach einer Nacht voll Alkohol und Erinnerungen soll er nach Amsterdam fliegen, um auf einem Spinoza-Kongreß zu referieren über die Frage »Wer war Spinozas Lehrer?« Auf dieser dritten, reichlich schiefen Erzählebene rutscht der Roman unaufhaltsam ins Seichte ab. Hier hätte das ganze Werk sein argumentatives und kompositorisches Fundament bekommen sollen, aber es ist daraus nur ein verworrener Abgesang geworden, der das ganze Buch begleitet, zudringlich und geschwätzig wie die Hauptfigur im zunehmenden Suff. Diesen Viktor muß nicht nur der Leser über zu viele Seiten ertragen, auch seiner ehemaligen Klassenkameradin Hildegund wird er eine ganze Nacht lang zugemutet. Nachdem die ehemaligen Schulkollegen und Lehrer das Klassentreffen schimpfend verlassen haben, bleibt er mit ihr allein im Restaurant. Viktor und Hildegund tafeln und zechen bis spät in die Nacht, fahren im Taxi durch Wien, reden und streiten über die Vergangenheit. Er war schon damals in der Schule in sie verliebt gewesen, nun macht er ihr wieder den Hof, seitenlang brunftig und plump, mit öden Wortspielen und Witzchen. Hier verblödelt der Autor mutwillig sein großes Thema. Und doch ist dieser Roman ein intelligenter Beitrag zu jener Diskussion, die der Philosoph Rudolf Burger vor einigen Monaten vom Zaun gebrochen hat mit seinem forschen »Plädoyer für das Vergessen«. Augenscheinlich zeigt Menasse, daß das Vergessen von gigantischen Greueln in der Geschichte weder verordnet noch geplant werden kann. Eine der Romanfiguren, der Vater des Protagonisten, ein Folteropfer der portugiesischen Inquisition, leidet sein restliches Leben auch an diesem Dilemma: ».wo er nur konnte, predigte er die Notwendigkeit des Erinnerns, Erinnern, erinnern! Niemals vergessen! In der Nacht aber, wenn er im Schlaf schrie, schrie seine Sehnsucht nach dem Vergessen. Vergessen! Wenn er nur vergessen könnte!« Von unerhörtem Scharfsinn ist auch jene Passage, die von einer Angestellten in einem Lissaboner Museum erzählt, die Mitleid hat mit jenen Menschen, die den Gestank der verbrannten Opfer der Inquisition ertragen mußten. Die Nivellierung der Rollen von Peinigern und Gepeinigten im Vergessen ist trotz der historischen Distanz schauerlich, selbst wenn der Nationalsozialismus für heutige Generationen so weit entfernt wäre wie die Punischen Kriege, wie Rudolf Burger so effektvoll konstatiert. Auch auf der zweiten Erzählebene, die im Österreich des Wirtschaftswunders und der Kreisky-Ära handelt, entwirft Menasse immer wieder eindringliche Bilder vom Nachleben des Unrechts. Der junge Viktor Abravanel bohrt ständig mit Fragen in der Vergangenheit seines Vaters und seiner Großeltern, bis er merkt, daß er sie dadurch noch zusätzlich peinigt. Nur die Opfer hätten ein Recht auf Vergessen, aber die Quälgeister im eigenen Kopf und in der Nachkommenschaft verwehren es ihnen. Das gilt für die Verfolgten der Inquisition wie für die des Nationalsozialismus, so deutet es dieser Roman sinnfällig an. Andere Parallelen zwischen diesen beiden epochalen Katastrophen sind weniger geglückt und einleuchtend. Die Erziehung in einem jesuitischen Internat im Wien der Studentenrevolte mag abstumpfend gewesen sein, sie zu vergleichen mit dem religiösen Terror in einem portugiesischen Konvikt um 1620 ist ein Fehlgriff in die Effektenkiste. - Robert Menasse hat eigentlich zwei Entwicklungsromane geschrieben, deren Verflechtung nur an manchen Stellen künstlerisch gelingt. Zu viel wird vermasselt von der ungelenken Klammer der Gegenwartshandlung, von Klischees und vom weinlaunigen Geplapper des Helden. Am eindrucksvollsten ist die Geschichte des Samuel Manasseh, einer historisch verbürgten Figur, auch auf Bildern von Rembrandt, auch Menasseh geschrieben. Der Name dieses Protagonisten und der des Autors werden nie direkt in Verbindung gebracht, doch sie deuten auf die Sensibilität von Robert Menasse für seine Herkunft. Skrupulös rekonstruiert und fiktionalisiert er die ferne Lebensgeschichte, selten biegt er sich geschichtliche Daten zurecht. Samuel Manasseh wird als Manoel oder Mané in Portugal geboren, als dort der Katholizismus wütet. Seine Eltern sind Marranen, zwangsgetaufte Juden, die heimlich ihrer Religion treu geblieben sind. Als Kind beteiligt er sich an Hetzjagden gegen Juden, ohne zu wissen, daß er selbst einer ist. Der Vater wird denunziert, in den Folterkellern der Kirche gebrochen, während der Sohn bei den Jesuiten gedrillt wird. Bettelarm gelingt später der Familie die Flucht nach Holland. Manasseh wird Rabbiner in Amsterdam, setzt sich ein für die »Wiedergutmachung«, die Rückkehr der aus England vertriebenen Juden, und einer seiner abtrünnigen Schüler heißt Baruch d'Espinoza. Ständig von Geldsorgen geplagt, heiratet er ein häßliches Mädchen aus der angesehenen Familie Abravanel (eine der künstlichen Brücken zur zweiten Ebene dieses Romans) und wird mit ihr nicht recht glücklich, ebensowenig wie mit den allzu frommen Juden seiner Gemeinde, die Abweichler inquisitorisch behandeln und mit einem Bann belegen. - All das wird erzählt mit Klugheit und Kompetenz. Die lebhafte Farbigkeit des Inhalts entschädigt den Leser für manches mühsame Waten durch abgedroschenes sprachliches Stroh, für biedere Aussagesätze mit dürftiger Aussage (»Er liebte ihre Stimme.«), für kurzatmige Lückenfüller (»Nächtelang lag er wach.«) und andere erzählerische Flauheiten. Insgesamt aber ist in diesem Teil des Buches das »sinnliche Scheinen der Idee« gelungen, die Figur und ihre Epoche leuchten unter Menasses scharfem Blick für geistige Zwickmühlen aller Art. Auch die Figur des Viktor Abravanel, der mehr als drei Jahrhunderte nach Samuel Manasseh in harmlosere ideologische Mühlen gerät, ist an vielen Stellen gelungen. Die Zeit des Wiederaufbaus und der sozialdemokratischen Zuversicht wird von Menasses kundiger Ironie untermalt. Viktor ist das Kind von Juden, die rechtzeitig geflüchtet und dann wieder nach Wien zurückgekehrt sind, der Vater ein egoistischer Hallodri, die Mutter eine überlastete opportunistische Kellnerin. Viktor wird zu Jesuiten ins Internat gesteckt und weltfremd erzogen. Seine jüdische Abstammung wird ihm erst bei einer Klassenfahrt nach Rom so richtig bewußt, wo er im Vatikan Einblick bekommt in den Glanz und die Tragödie seiner Vorfahren. An der Universität forscht er erst sehr spät nach seinen Ahnen, nachdem er Freud und Leid des Trotzkismus und einer Wohngemeinschaft durchlebt hat. - Dieses Epochenbild ist aber nur bedingt stimmig, zu unwahrscheinlich sind manche Episoden: Viktor wird geboren just am Tag der österreichischen Unabhängigkeit, buchstäblich auf der Straße unter der jubelnden Masse und mit der Hilfe eines Fleischhauers. Und der 17-jährige Gymnasiast bekommt durch einen versoffenen Priester Zugang zu geheimsten Archiven im Vatikan (wovon Historiker aller Länder nur träumen). Solch erstaunliche Nummern taugen weder als Karikatur noch zur Symbolik, weil sie zu bieder erzählt werden. Was an die metaphysischen Wagnisse bei lateinamerikanischen Autoren erinnern könnte, ist nur eine schnell verfertigte Abenteuerlichkeit wie aus dem Filmstudio, oder wie bei Umberto Eco. Aber das sind nur vereinzelte Stellen. Sonst ist Menasse als Erzähler nicht so schlecht wie Eco und als Historiker mindestens so gut. Als politischer Kopf ist er bekanntlich originell, wenn er nicht originell um jeden Preis ist. Auch dieses Buch ist voll von gescheiten Beobachtungen zur 'res publica", zur fernen Vergangenheit wie zur Gegenwart, über den reaktionären Mief Österreichs in den sechziger Jahren und über die revolutionäre Inbrunst streunender Idealisten an der Universität in den Siebzigern. Nur sind die Verbindungslinien zu den durchkreuzten Epochen oft reichlich kühn. Freilich ist es meist der Romanheld und nicht der Autor, der schwadroniert von der Wiederholung der Geschichte, der rülpst und meint, es sei »gleichgültig, ob wir über das Jahr 1972 reden oder über das Jahr 1622«. An manchen Stellen verwischen sich aber die Positionen. In der Rahmenhandlung der Gegenwart, die eine Verbindung zu den beiden anderen Ebenen plausibel machen sollte, ist es nicht immer der Protagonist, der flache Sprüche klopft. Er sei in manchen Belangen »kompromißloser als die Österreichkritik der österreichischen Schriftsteller«, heißt es von ihm, doch spricht hier nicht der zunehmend betrunkene Viktor. Es ist der auktoriale Erzähler und hinter ihm der Bauchredner Robert Menasse, der die Essayistik nicht lassen kann, dem autobiographische Anlehnung nicht genügt, der deshalb auf eine reale Polemik anspielt - ein selbstreferenzielles Späßchen aus dem literarischen Wien dieser Jahrhundertwende, zum Glück ein Einzelfall in diesem Roman. *LuK* Franz Haas
Personen: Menasse, Robert
Menasse, Robert:
¬Die¬ Vertreibung aus der Hölle : Roman / Robert Menasse. - Frankfurt a. M. : Suhrkamp, 2001. - 492 S.
ISBN 978-3-518-41267-1 fest geb.:
Politische und sozialkritische Romane - Signatur: DR.Z Menas - Buch