Thiel, Georg
Jud
Buch

Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html)
Autor: Maria Schmuckermair;
Zwanzig Jahre nach einem traumatischen Kindheitserlebnis reist der in einer Krise steckende englische Fotograf Titus zurück in seine Heimatstadt Wien. (DR)
"Natürlich hasse ich Österreich. Aber ich trage dieses entsetzliche wienerische Erbe in mir." 1958, Manchester: Die Beziehung des Fotografen Titus mit seiner Freundin ist nur mehr ein "Sich-gegenseitig-Quälen", auch beruflich befindet sich Titus Strings an einem Tiefpunkt. Doch der Anruf einer Agentin des "Manchester Guardian" eröffnet ihm einen einträglichen Arbeitsauftrag: Titus soll eine Fotoreportage über die Weltausstellung in Brüssel erstellen. Dort angekommen, muss er mit dem hoch gebildeten, aber äußerst schwatzhaften Feuilletonisten Rupert zusammenarbeiten. Aus dem russischen Pavillon werden die beiden wegen dessen boshaften, aber treffsicheren Kommentaren zur UdSSR hinausgeworfen. Der Besuch des vatikanischen Pavillons provoziert erst recht zu süffisanten Bemerkungen ("Die Regime beider Länder weisen einige Übereinstimmungen auf"). Im österreichischen Ausstellungsgebäude schließlich bricht Titus weinend zusammen, als er die Zeilen aus Schuberts "Winterreise" hört: "Fremd bin ich eingezogen" Die kluge und warmherzige Hostess Erika spürt sofort, was Titus braucht: Er muss zurück nach Wien, um die Verwundungen seiner Kindheit zu heilen - eine Naturnotwendigkeit. Mit dieser Heimreise wird ein Feuerwerk an Ereignissen gestartet, das den Ich-Erzähler mit dem Trauma seiner Jugend konfrontiert. 1938 hat ein dickleibiger Mann in Uniform und mit Hakenkreuzbinde den 15-Jährigen gezwungen, das Wort "Jud" an die Hauswand zu pinseln. Diesen ewiggestrigen Nazi macht er ausfindig und konfrontiert ihn mit seiner Untat.
Der spitzzüngige und pointenreiche Tonfall des Erzählers verträgt sich erstaunlich gut mit dem ernsten und letztlich tragischen Hintergrund - das ist die Stärke dieses schmalen Romans, den man gebannt und vergnügt in einem Zug durchliest. Mit großem Nachdruck empfohlen!

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Quelle: Literatur und Kritik;
Autor: Timo Brandt;
Ein Rachestück, komödiantisch, feingeistig, etwas überinstrumentiert
Georg Thiels Roman »Jud«
Wir schreiben das Jahr 1958, dreizehn Jahre sind vergangen seit den Schrecken und der Verwüstung des Zweiten Weltkriegs. Titus Strings, der Protagonist des Romans, ist jüdischer Abstammung und entkam zur Zeit der Naziherrschaft aus Wien, jetzt lebt er in Manchester in England. Hier schlägt er sich als Fotograf durch, obwohl seine besten Zeiten in der Branche hinter ihm liegen; eine unbedachte Tat hat ihn vor einer Weile ins Abseits katapultiert.
Einigermaßen überraschend kommt daher die Anfrage, ob er nicht von der Weltausstellung in Brüssel berichten will. Es winken ein toller Scheck und die Gelegenheit, sein trauriges Dasein und seine desolate, gerade auseinanderbrechende Beziehung hinter sich zu lassen. Schnell packt Titus seine Sachen und begibt sich nach Belgien.
In Brüssel trifft er sich mit seinem journalistischen Begleiter für die Weltausstellung, einem zynischen, wie ein Wasserfall salbadernden, vollendeten Allroundfeuilletonisten namens Rupert, mit dem der Gang durch die verschiedenen Pavillons zu einer Odyssee und zu einer Orgie von spitzfindig-arrivierten Beleidigungen gegen jegliche Nation sowie allerhand Ideologien und Idiotien (in Ruperts Augen oft ein und dasselbe) gerät, bei der keine Taktlosigkeit unterlassen wird.
Am zweiten Tag, im österreichischen Pavillon, bricht Titus zusammen, als ihn die ganze Wucht seiner Vergangenheit als Nazi-Opfer trifft. Sein neuer Freund Rupert und eine junge Dame, welche im österreichischen Pavillon arbeitet und sehr schnell einiges für Titus übrig hat, setzen auf Konfrontationstherapie und schicken Titus mit besten Wünschen und einigen finanziellen Mitteln nach Wien, wo sie ihm auch eine Unterkunft organisiert haben und wo seine Suche nach dem Peiniger beginnt, der ihn damals, 1938, das Wort »Jud« an die Fassade des eigenen Hauses schreiben ließ. Der Mann entpuppt sich als pensionierter Lehrer und manischer Schubertianer (allerdings mit obskuren Thesen) und lebt im hinterletzten Dorf von Österreich. Dorthin macht sich Titus auf nun ist er Herr der Lage und er will die Demütigung ein für alle Mal zurückzahlen
Georg Thiels Roman ist durch und durch humorisiert, er balanciert selbst in den ernsten Momenten noch auf einem Witz, einem Seitenhieb herum. Fast alle Figuren könnten auch Parodien, satirische Überzeichnungen sein, so offen und ungeniert werden sie in ihrer Schrulligkeit präsentiert, so wenig interessiert sich der Roman für Zwischenmenschliches oder irgend­welche tieferliegenden Ebenen.
Diese ganze Humoristik, mal kräftig, mal fein, mal bitterböse, mal elegant, steht natürlich nicht unbedingt im Kontrast zum Thema des Buches (manchmal hat man allerdings das Gefühl, sie sei das wahre Thema), doch ganz habe ich beide im Verlauf der Lektüre nicht zusammenbringen können. Natürlich ist in diesen Scherzen immer wieder eine Spur des Wahnsinns zu finden, der dem Thema innewohnt, und Georg Thiel gelingt es immer wieder, diesem Wahnsinn, trotz aller Komik, Gewicht zu verleihen; zu zeigen, dass das Wahnsinnige manchmal belacht und ausgeschlossen, manchmal aber inthronisiert und befolgt wird. Das ist auf jeden Fall ein Verdienst dieses Buches, diesen Widersinn herauszukehren.
Dennoch: ich kann diesen Roman nicht ganz ernst nehmen und vielleicht ist das auch seine Absicht. Wobei ich dann nicht weiß, wie ich das finden soll. Sich über die katholische Kirche, das österreichische Beamtentum und seine Bürokratie oder die Sowjetunion lustig zu machen (wie es Rupert mit wunderbarer Oscar-Wilde-Manier und Titus mit widerständiger Süffisanz tun), ist das eine aber wie steht es um die komödiantische Inszenierung der Rache eines jüdischen Menschen an einem Nazi?
(Am Ende des Buches schreibt Thiel, in einer kurzen Notiz, dass der Roman sich auf »wahre Begebenheiten« beziehe. Ich hätte hier ein etwas ausführlicheres Nachwort gut gefunden, das zeigt, inwieweit echte Begebenheiten eingebunden wurden und was an dem Buch ein Werk der Fiktion ist).
Abseits der Frage, wie man den Roman letztlich bewertet, erwartet einen hier eine ganze Menge schräger Esprit und viel hochgeistige Albernheit auf Screwball-Komödien-Niveau. Es wird viel gesoffen, es gibt ein paar literarische Zitierorgien und Archetypen und Klischee tanzen den ein oder anderen munteren Reigen, bei dem das österreichische Hinterwäldlertum im späteren Verlauf ein paar harte Treffer einstecken muss.
Erst relativ spät im Buch erzählt Thiel Titus Vorgeschichte: Wie er nach England kam, dann als deutschsprachiger Bürger in der heißen Phase des Krieges interniert und nach Australien geschickt wurde. Wie er doch noch am Krieg teilnahm, in Afrika und Italien, im Anschluss zur Fotografie fand und vom Tod der Eltern, die vor dem Krieg nach Israel geflohen waren, erfährt. Diese fast ganz zum Schluss kommenden Schilderungen, die etwas zu geballt, fast abrissartig, wirken, offenbaren, dass dieses Buch auch ganz anders hätte aussehen können. Es liegen Welten zwischen der rasanten, sehr unterhaltsamen Prosa, in der das Buch größtenteils erzählt wird, und dem Erzählduktus dieser Vorgeschichte.
Es ist wohl das, was mich die ganze Zeit, bei allem, was diesem Buch gelingt, irritiert hat: ich hatte (abgesehen von diesen paar Seiten) nie das Gefühl, es hier mit der Geschichte eines Überlebenden zu tun zu haben, sondern mehr mit einer Rache-Komödie, in der ein Überlebender in die Hauptrolle gepackt wurde.


Dieses Medium ist verfügbar. Es kann vorgemerkt oder direkt vor Ort ausgeliehen werden.

Personen: Thiel, Georg

Schlagwörter: Manchester Fotograf Nationalsozialismus Brüsseler Weltausstellung

Thiel, Georg:
Jud. - Erstauflage. - Wien : Braumüller, 2018. - 220 Seiten. -
ISBN 978-3-99200-199-6

Zugangsnummer: 4290 - Barcode: 1697
Romane, Erzählungen und Novellen - Signatur: DR - Buch