Welsh, Renate
Die alte Johanna
Buch

Quelle: 1000 und 1 Buch (http://www.1001buch.at/); Autor: Ernst Seibert; Jugendliteratur, nach 2000 ein fast schon antiquierter Begriff, ist es zu eigen, dass sie meist ohne Zeitbezug gelesen und interpretiert wird, und das ist das Beste, was ihr passieren kann, weil ihr damit das Signum der Zeitlosigkeit zukommt, also eines, das ein Werk als klassisch auszeichnet. Klassiker ist der Roman Johanna von Renate Welsh, 1979 erstmals erschienen, allemal; aber gerade deshalb ist es auch aufschlussreich, den Zeitbezug, also die Sicht auf die 1970er-Jahre, herzustellen. Ziemlich genau 1970 (dem Todesjahr von Marlen Haushofer) begann Renate Welsh ihre literarische Karriere, gleichzeitig mit Elfriede Jelinek (mit Wir sind Lockvögel, Baby 1970 und Michael, ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft 1972) sowie Franz Innerhofer (mit Schöne Tage 1974 und Schattseite 1975 Autobiographien, später auf vier Bände erweitert); der schon arrivierte Thomas Bernhard legte in diesen Jahren seine autobiographiebasierte Romanfolge in fünf Bänden (von Die Ursache 1975 bis Ein Kind 1982) vor. Es waren also Jahre einer zuvor noch nie so intensiven und dichten Thematisierung von eigener oder auch fiktiver Kindheit, wofür noch eine Fülle von Beispielen anzuführen wären. Sie alle wären je für sich mit Johanna zu vergleichen, und es ergäbe sich ein vielfältiges Panorama, das mit den Begriffen Anti-Heimatroman oder Adoleszenzroman, oder auch einfach (Auto-)Biographie nur bedingt zusammenzufassen ist. Vergleichbar sind sie durch die gar nicht so unterschiedlichen Situationen der ProtagonistInnen und deren allmähliches Erkennen ihrer gesellschaftlichen Barrieren in den sozial unterprivilegierten Verhältnissen. Johanna fügt sich auf faszinierende Weise in dieses Panorama, wobei zur genannten poetologischen Triangulierung als viertes Moment der Umstand hinzuzufügen ist, dass der personale Erzählstil, der sowohl Johanna als auch Die alte Johanna (über 40 Jahre danach) prägt, darauf beruht, dass Renate Welsh zur realen Person, die hinter ihrer Protagonistin steht, über die Jahre und nun Jahrzehnte ein sehr enges Vertrauensverhältnis aufgebaut hat. Jedenfalls hat der Roman Johanna in diesem Umfeld eine besondere Position, die in ihrer Novität sofort erkannt wurde und nun durch Die alte Johanna eine herausragende Singularität erreicht. Diese sehr bedingt als Fortsetzungsroman zu bezeichnende Fortschreibung vereint alle drei poetologischen Zuschreibungen und weist auch insofern ein originäres Profil auf, als er nicht definitiv jugendadressiert erscheint, sondern als innovative Erweiterung des allgemeinliterarischen Feldes zu lesen ist. Renate Welsh legt mit dieser erst jugend- und dann alterszentrierten Charakterstudie auch ein Stück österreichischer Mentalitätsgeschichte vor, in der gegenüber der Charakterfestigkeit der Protagonistin eine ganze Palette von Charakterlosigkeiten und Inhumanitäten ihrer Antagonisten vergegenwärtigt werden. Der Schicksalsweg der eindrucksvollen Figur der jungen Johanna, uneheliches Kind einer Bauernmagd, die das uneheliche Kind einer Bauernmagd war (S. 6 in dem von Welsh verfassten acht Seiten umfassenden Vorwort) führt im ersten Roman auf der untersten Stufe des agrarischen bzw. proletarischen Milieus bis in die späten 1930er-Jahre und endet mit der Geburt ihres Kindes. In der Fortschreibung blickt Johanna bereits als Witwe auf die Familien ihrer sieben Kinder und auch schon Enkelkinder, wird, nicht selten gegen ihren Willen, versorgt, ist geachtet und vergleicht in inneren Monologen die Lebensbedingungen ihrer Nachfahren mit ihren eigenen in den frühen Jahren. Der nicht eben feste Begriff des Altersromans erlangt in dieser Gestaltung besondere Konturen, letztendlich steht aber der Roman durch seine faszinierenden Spannungsmomente als erratischer Block im Koordinatensystem jugendliterarischer Gattungszuschreibungen und ragt über sie hinaus. In Johannas assoziierenden Vergleichen erwächst die Spannung immer wieder aus Empörungen der nun alten Frau, die über das Verhalten von Personen in ihrer bedrückenden Jugend, die zum Teil auch heute noch ihre Wege kreuzen, ungebrochen ihre überzeugenden Urteile in die Waagschale wirft. Welsh geht dabei, was sie im Vorwort auch begründet, nicht in chronologischer Ordnung vor, sondern der Wechsel von Erinnerungen zur jeweils unmittelbaren Gegenwart stiftet einen permanenten Horizont von Reflexionen, wobei bewundernswert ist, dass die Autorin alle Arbeiten und auch die Arbeitsbedingungen selbst geradezu sinnlich nachempfindend sehr genau kennt, denen Johanna erinnernd nachsinnt. In dieser Erzählhaltung wird Sozialgeschichte gleichsam sinnlich erfahrbar und erlangt eine neue poetologische Qualität, die man als einen Generationen überspannenden Sozialroman bezeichnen könnte. Beispiel dafür ist etwa auf S. 116 die alte Johanna beim Fernsehen, das sie ob des technischen Komforts genießt, dabei jedoch durch die Bilder aus den Unheil dokumentierenden Nachrichten an ihre Jugend erinnert wird. So entsteht ein stetes Nebeneinander von historischer Analyse und psychologischer Vergegenwärtigung durch das selbst erlittene Leid. Dramatischer Höhepunkt ist das unmittelbare Einbrechen weit zurück liegender Konflikte in die Gegenwart (S. 129), das beinahe zur Familientragödie wird. Ganz am Rande erlaubt sich Renate Welsh auch selbst einen Auftritt als die, die das Buch über mich (Johanna) geschrieben hat (S. 146). Wenn im Dialog Johannas mit ihrer Enkelin von Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein die Rede ist (S. 169), könnte man veranlasst sein, an Mira Lobe zu denken, die diesem Lied auch ein Buch gewidmet hat.Und daran, dass nunmehr Renate Welsh die Doyenne der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur ist und den Weg repräsentiert, den dieses Genre in Österreich zur Verflechtung mit der Allgemeinliteratur gegangen ist. (Vgl. dazu worüber man nicht sprechen kann, kann man schreiben Renate Welsh 80. Hg. von Ernst Seibert und Sabine Schlüter. Praesens, Wien 2017. (= libri liberorum Jg. 18, SH 2017).


Rezension


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Personen: Welsh, Renate

Schlagwörter: Österreich Frauen Zeitgeschichte

Welsh, Renate:
¬Die¬ alte Johanna / Renate Welsh. - Wien : Czernin, 2021. - 187 Seiten
ISBN 978-3-7076-0724-6 EUR 20.00

Zugangsnummer: 14826
Romane - Signatur: DR Wel - Buch