Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html) Autor: Martina Lainer; Vom Verstehen wollen - ein vernetzt angelegter Roman mit Empathie und Erzählkraft! (DR) Anna Mitgutsch erweist sich wieder einmal als begnadete Erzählerin. Dabei misst sie sich an dem zu Lebzeiten verachteten Autor, Herman Melville, spürt ihm in der Figur der Edith nach, sowohl was seine Biografie als auch sein Werk anlangt. Ihre Ansprüche an eine Dichterbiografie werden dabei deutlich: Sie will Zusammenhänge verstehen und Gerechtigkeit widerfahren lassen. Das gilt auch für die anderen Stränge dieses komplexen Erzählwerks, wenn sie fast dokumentarisch, auf alle Fälle aber akribisch festhält, wie das Schicksal Gabriels an nur einem Tag seinen Lauf nimmt und ein brutales Ende findet. Mit Edith hat sie eine Figur geschaffen, die die ideale Verbindung zwischen Melville und ihrem Sohn Gabriel bildet - beide sind mit ihrer Wahrnehmungsweise Außenseiter, beide haben Fähigkeiten, mit denen sie Unbehagen bei ihren Zeitgenossen auslösen, ja zu Feindseligkeiten einladen. Es sind die Parallelen, die die beiden so unterschiedlichen Männer aus verschiedenen Epochen zu Gleichgesinnten machen. Edith wiederum schreibt verzweifelt Briefe an ihren Exmann und Vater ihres Sohnes Gabriel. Sie schickt sie nicht ab, nach ihrem Tod wird sie Gabriel lesen. Weit über die Ehe hinaus besteht ein festes Band zwischen den beiden, die immer wieder in fremden Ländern ansässig werden mussten und doch nirgendwo heimisch werden konnten. Edith ist bemüht, ihrem Gatten durch das Verfassen einer Melville-Biografie nahe zu bleiben. Außerdem bildet der gemeinsame Sohn, der ihnen viele Sorgen bereitete, ein wichtiges Band. Sie will, dass er ihn verstehen kann, besonders als klar wird, dass sie bald sterben wird. Dieser Roman ist keine leichte Kost. Allein die verschiedenen Stränge mit ihren unterschiedlichen Tempi reißen immer wieder aus fesselnden Erzählungen heraus: Melville und seine Zeit mit einem langsamen Tempo, die Beziehung Edith und Leonhard mit punktuellen Schlüsselerlebnissen und Gabriel, den wir einen Tag lang begleiten und - ebenso wie die Mutter - nicht beschützen können. Obwohl sich die Autorin als Erzählerin nicht selber preisgibt, ist in allen ihren Figuren eine überaus große Sympathie zu spüren. Sie ist auf der Seite der "Anderen", weil sie selber immer auch die Fremde ist und es mit ihrem Sohn noch einmal auf ganz perfide Weise wird. Bilderreich, einem durchdachten Erzählkonzept folgend und empathisch tiefsinnig, entführt sie wortgewaltig und mitunter redundant in eine Welt, in der die Kategorien "normal" und "anders" obsolet werden. ---- Quelle: Stifterhaus (http://www.stifter-haus.at/) Autor: Christian Pichler; Ein heiliger Narr Allen humanen Appellen zum Trotz: Viele Menschen verachten, ja hassen das "Schwache" und wollen es vernichten. Das weiß auch Edith. Sie ist Mutter von Gabriel, einem Grenzgänger am Rande zum Autisten. Die Sorge um ihn macht ihr jahrelang das Leben schwer. Soll, kann sie ihn beschützen vor den Menschen, die sich durch seine "Lebensuntauglichkeit" provoziert fühlen - vor den hänselnden Schulkameraden, später vor den sadistischen Arbeitskollegen? Oder soll sie ihm Eigenverantwortung zugestehen? Bitteres Fazit: Als Gabriel erstmals eigenständig in die Welt aufbricht, geht er unter. Das ist nur ein Strang in Anna Mitgutschs vielschichtigem Roman "Zwei Leben und ein Tag". Zentralgestirn des Buches, an dem die Figuren gespiegelt werden und über dessen Biographie hier einiges zu erfahren ist, ist Herman Melville (1819-1891), posthum gefeierter Autor des "Moby Dick". Ein New Yorker Großkritiker hatte dieses später als ein Stück Weltliteratur erkannte Buch verrissen und damit frühzeitig Melvilles schriftstellerische Karriere zerstört. Melville, zuvor noch in der feinen Gesellschaft herumgereichter Erzähler seiner Südsee-Abenteuer, versuchte in den folgenden Jahren vergeblich, literarische Anerkennung zu finden. Immer mehr zog er die Verachtung seiner Familie auf sich, ein Sohn brachte sich um (angeblich aus Rache an dem verhassten Vater). Melville, so heißt es, murrte in den letzten Jahren nicht, sondern akzeptierte schließlich sein "Scheitern". Die dritte Ebene, die Beziehung von Edith und Leonard, mehr als zwanzig Jahre ein Paar, von Mitgutsch nahe der Gegenwart angesiedelt. Kennen gelernt hat Edith Leonard, als der zu ihr über seine Dissertation über Melville sprach. Melville wird fortan ihre Diskussionen und ihre Reisen bestimmen. Und Gabriel, der Sohn, wird ihr Leben bestimmen: als Dreijähriger durch eine mysteriöse Krankheit tagelang an hohem Fieber, danach an einem irreparablen Gehirnschaden leidend. Hat Edith (Leonard war als Mann "naturgemäß" abwesend) nicht rechtzeitig auf Gabriels Erkrankung reagiert? Hätte sie forscher zu den Ärzten sein müssen? In Briefen an Leonard denkt Edith über diese Fragen nach und schreibt ihre Gedanken zu Melville nieder. Und sie fragt sich, wie und warum es schließlich zur Trennung von Leonard gekommen ist. War es bloß Leonards Sehnsucht nach einer Jüngeren? War der verletzliche Gabriel das Band, dass die Eltern immerhin jahrelang einte? Oder war es doch Ediths vermeintliche "Schuld" an der Behinderung Gabriels, die ihr Leonard nie verzeihen konnte? - Merkwürdiger Weise spart Mitgutsch eine Interpretation weitgehend aus, zumindest wird diese nicht explizit erwähnt: Leonard zieht lange Jahre, auf der vergeblichen Suche nach der Erfüllung seiner akademischen Karriere, mit seiner Familie um die Welt. Hat er mit dieser Rast- und Wurzellosigkeit das Leiden des Sohnes, der doch so sehr Ruhe und Verlässlichkeit brauchte, entschieden verstärkt? Anna Mitgutsch hat mit "Zwei Leben und ein Tag" womöglich - Vorsicht, vertracktes Wort! - ein Opus Magnum geschrieben. "Vertrackt" ist der Ausdruck deshalb, weil sich der/die LeserIn tatsächlich fragt, was auf dieses Buch noch folgen soll. So viel, scheint´s, fließt hier an persönlichen Erfahrungen ein. So viel über das Verhältnis zur Literatur, vom Nachdenken über das wunderbare und das fürchterliche Leben. Die Briefform, die, wenn überhaupt, nur am Anfang gewöhnungsbedürftig ist, ermöglicht größte Intimität: Hier geht´s ums ganze zwischen den Menschen. Die Briefeschreiberin Edith, die ihren nahen Tod erwartet, findet einen versöhnlichen Ton. Es ist kein billig erkaufter Friede, sondern dem Leben und sich selbst abgerungen. Mitgutsch lässt wesentliche Fragen in der Schwebe, bleibt wohltuend doppeldeutig: Melville, ein egozentrischer Berserker oder ehrlich Suchender nach einer Art metaphysischen Wahrheit? Und Gabriel: ein heiliger Narr (man wird an Dostojewskis "Idiot" erinnert), der dankbar ist für jedes Lächeln und den Verrat dahinter nicht erkennt. In den Gabriel-Kapiteln, die Mitgutsch in herkömmlicher Erzählform verfasst hat, schlägt der milde Ton in bittere Anklage um: Eine durch und durch habgierige Gesellschaft kann ein unschuldiges Wesen wie Gabriel nur vernichten.
Rezension
Personen: Mitgutsch, Anna
Mitgutsch, Anna:
Zwei Leben und ein Tag : Roman / Anna Mitgutsch. - München : Luchterhand, 2007. - 349 Seiten
ISBN 978-3-630-87256-8
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