Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html) Autor: Karl Vogd; Expeditionen in eine Kindheit in der niederösterreichischen Provinz. (BI) Bereits nach der Lektüre weniger Seiten wird klar, dass es sich hier nicht um einen Roman, sondern um eine Autobiografie handelt. Der Schriftsteller Martin Prinz erzählt von seiner Kindheit und Jugend in der niederösterreichischen Kleinstadt Lilienfeld. In die Erzählpassagen eingeflochten sind immer wieder Reflexionen - über prägende Erfahrungen, wichtige Personen und über das lange Nachwirken der beiden Weltkriege. Auch in der Familiengeschichte des Autors haben die Kriegsereignisse ihre Spuren hinterlassen. Die Großmutter väterlicherseits ist das Kind eines zaristischen Soldaten, der während des Ersten Weltkrieges in einem Kriegsgefangenenlager in Niederösterreich interniert war. Der Zweite Weltkrieg war wiederum, so vermutet der Autor, verantwortlich für die unglückliche Ehe des Großvaters, der nach 1945 als Schuldirektor und langjähriger Bürgermeister eine besondere Position in der Gemeinde hatte. Die unsentimentale, berührende Schilderung des verlorenen Liebesglücks zweier Vertreter der Kriegsgeneration ist ein Highlight des Buches. Martin Prinz ergründet in diesen autobiografischen Erinnerungen aber auch, wie früh sein Weg zum Schriftsteller angebahnt wurde. Grundlegend war die Lesebegeisterung. Ohne Rückschläge ging es aber nicht ab. Am Beginn stand eine schwere Demütigung - das Versagen beim Schreiben der ersten Buchstaben in der Volksschule. Prinz erzählt konventionell, aber sprachlich solide. Er betreibt weder Heimatverklärung noch Heimat-Bashing. Sein Buch ist eine lesenswerte literarische Auseinandersetzung mit dem Topos Heimat, die mit ihrer Genauigkeit und ihrem Bemühen um Wahrhaftigkeit überzeugt. ---- Quelle: Pool Feuilleton; Die höchste Roman-Kunst besteht darin, sein eigenes Leben so aufzuschreiben, dass man meint, es sei eine allgemeingültige Geschichte der Menschheit. Martin Prinz hat seine Kindheit in der Peripherie-Hauptstadt Lilienfeld verbracht, die 1976 während der tausendjährigen Babenberger-Ausstellung zumindest in Österreich zu Weltruhm gelangt ist. In den unsichtbaren Seiten beschreibt er einerseits Teile des erzählenden Ichs, die normalerweise nicht sichtbar sind, andererseits liegt den aufgeschriebenen Sequenzen immer eine geheime, unsichtbare Chronik zugrunde, die zwar während des Lesens kurz aufleuchtet, dann aber wieder mit dem zugeklappten Cover im Regal verschwindet, wenn der Roman abgestellt wird. Gerade dieser raffinierter Erzähltrick, dass das Unsichtbare wie bei einer Zauberei mit einer Geheimschrift kurz sichtbar gemacht wird, dann aber wieder ins Unauffällige und Belanglose zurücksinkt, kommt der evozierten Stadt Lilienfeld zugute. Für eine Romanlänge spielt sie jene Rolle, die sie für darin Heranwachsende spielen. Und so ist der erste Satz als märchenhafte Formel zu verstehen: "Ich bin der König. [] Der König von Lilienfeld." In fünf Abschnitten baut sich das Märchenreich allmählich zur melancholischen Realität aus. Zuerst haben nur die Verwandten das Wort und es gilt zwischen dem Clan in Traisen und jenem in Lilienfeld zu unterscheiden. Die beiden Reiche sind sich ähnlich wie Sparta und Athen, oder später im Kalten Krieg wie die beiden Deutschlands. Sie stehen einander gegenüber, und glotzen sich an. Diese Kunst wird gerade in der Provinz hochgehalten. Der Großvater ist zudem dreißig Jahre lang Bürgermeister gewesen, was den Erzähler zur Ansicht verleitet, dass er vielleicht wirklich ein politischer Prinz ist, und nicht bloß der kleine Prinz, der ihm in der Schule als Lesestoff gezeigt wird. Der Stoff der Kindheit beruht nämlich auf seltsamen Quellen. "Viele solch früher Erinnerungen rührten in Wirklichkeit von Erzählungen der Eltern her." (39) Allmählich zieht die Zeitgeschichte auch über Lilienfeld herein. Der Held liegt im Gras und schaut in den Himmel und gibt den Himmelsrichtungen Namen von Atomkraftwerken, wohin die Wolken ziehen werden, wenn sie das abgestellte Zwentendorf überquert haben. (77) An anderer Stelle kommen die ersten Laufschuhe für die Mutter von Nike und riechen nach Amerika. Als der Großvater stirbt, sammelt der Erzähler gerade Fußballer-Bildchen für eine WM und der Vater schreit wie bei einem falschen Tor, als er den Großvater verstorben entdeckt. Jahre später wird das Haus geräumt. Bilder ohne Anlass liegen herum und warten auf eine Geschichte, zu der sie passen könnten. "Das schreibe ich und langsam begreife ich, wie oft das Nicht-mehr-Erinnerte das Gegenteil von Vergessen ist." (221) Die unsichtbaren Seiten lassen sich als Musterroman lesen, worin jeder während der Lektüre sein eigenes Leben einhängen kann wie bei einem begehbaren Schrank. Helmuth Schönauer
Rezension
Personen: Prinz, Martin
Prinz, Martin:
¬Die¬ unsichtbaren Seiten : Roman / Martin Prinz. - Berlin : Insel-Verl., 2018. - 220 S.
ISBN 978-3-458-17740-1
Romane, Erzählungen, Novellen - Signatur: DR Prin - Buch