Henisch, Peter
Eine sehr kleine Frau Roman
Buch

Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html) Autor: Cornelia Gstöttinger; Auf den Lebensspuren der Großmutter: ein Frauenschicksal im 20. Jh. (DR) Ein altes Klavier in einem Wiener Antiquitätenladen ist es, das Paul Spielmann in seine Kindheit zurückkatapultiert. Unverzüglich fühlt sich Spielmann in die Wohnung der geliebten Großmutter zurückversetzt, deren Spiel er, unter dem Flügel sitzend, andächtig lauschte. Mit wachen Sinnen streicht der Ich-Erzähler durch die Straßen seiner Geburtsstadt, auf seinen Streifzügen verdichten sich die Erinnerungen an seine Kindheit und an jene Frau, die ihm auf langen Spaziergängen durch ein zerstörtes Nachkriegswien erzählend die Welt erschloss, ihm durch ihre Geschichten die Welt der Sprache, der Literatur und der Musik öffnete. Der einstige Schriftsteller macht sich akribisch Notizen, will die Schicksalslinien seiner Großmutter, dieser "sehr kleinen Frau", nachzeichnen und findet dadurch zurück in die Schriftstellerei. Es war ein Leben voller Entbehrungen und Enttäuschungen, voller unerfüllter Sehnsüchte und Selbstverleugnung, geprägt von den politischen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts: Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs schwanger sitzen gelassen, hat es Marta nicht leicht, sich und ihr Kind durchzubringen. Schnell flieht sie in eine zweite Ehe mit dem dominanten Postbeamten Wilhelm Prinz, der sich den Nationalsozialisten anschließt und die jüdischen Wurzeln seiner Frau verabscheut. Marta flüchtet in die Welt der Lektüre, nach Wilhelms Tod ist es Margaret Mitchells Scarlett O'Hara, die sie aus dem Sumpf der Trauer reißt. Während dem Zweiten Weltkrieg findet sie eine Stelle als Krankenschwester, später wird sie an ihrem Enkel gutmachen, was ihr Sohn an Liebe und Geborgenheit missen musste. Mit diesem atmosphärisch-dichten Erinnerungsreigen knüpft Henisch an sein Vaterporträt "Die kleine Figur meines Vaters" (1975) an und schreibt - wenngleich der Zugang diesmal ein fiktiver ist - abermals ein Stück Familiengeschichte. Liebevoll und immer mit einem Hauch Melancholie wird hier Autobiografisches im Kleide eines Romans arrangiert. Einmal mehr erweist sich Henisch als Meister der leisen Töne und feinen Nuancen und zeigt als Chronist der kleinen Leute wiederholt sein großes Erzähltalent. Allen Beständen wärmstens zu empfehlen. Auch für Literaturgesprächskreise bestens geeignet. Ein neues Lieblingsbuch! ---- Quelle: Literatur und Kritik; Autor: Christian Tanzer; Heitere Melancholie Peter Henischs großer Roman "Eine sehr kleine Frau" Die Betrachtung von Fotos nimmt in den Anfangskapiteln autobiographischer Romane häufig einen zentralen Platz ein - als fest vertaute Ankerplätze, von denen aus die Erinnerungsstreifzüge ihren Ausgang nehmen können und unter deren augenfälliger Authentizität die so unterschiedlich verlaufenden Spurensuchen auch Zuflucht nehmen können. Peter Henisch selbst hat mit "Die kleine Figur meines Vaters", der kritischen Auseinandersetzung mit Leben und Werk seines Vaters, des Pressefotografen und Kriegsberichterstatters Walter Henisch, vor über 30 Jahren ein Maßstäbe setzendes Werk der später sogenannten "Väterliteratur" geschaffen und dabei das Foto als wichtige Quelle der eigenen schriftstellerischen Arbeit genutzt. Auch in seinem neuen Buch, in dem er mit der Geschichte seiner Großmutter ein anderes Kapitel seiner Familiengeschichte in den Blick rückt und das vom Titel her wie eine Fortsetzung des damaligen Erfolgsromans erscheint, kommt Bildern aus der Familiengeschichte eine bedeutende Stelle zu. Diesmal aber verhält es sich anders, denn die Fotos aus dem Fundus der Großmutter sind weggepackt in eine lederne Reisetasche, die dem Erzähler erst am Ende des Buches in die Hände fällt. Als er sie betrachtet, liefern sie ihm nur mehr die nachträgliche Bestätigung für seine inneren Bilder und Erinnerungen, die im Zuge einer vorangegangenen intensiven literarischen Recherche zusammen mit spekulativen und imaginierten Entwürfen sich zum Porträt der für sein "geistiges und seelisches Erwachen wahrscheinlich entscheidenden Person" fügen. Paul Spielmann, ein rund sechzigjähriger Literaturprofessor für deutschsprachige Literatur, kehrt nach zwanzigjährigem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten wieder in seine Heimatstadt Wien zurück, wo er zunächst außer dem Termin zu einer größeren medizinischen Untersuchung keine weiteren Verpflichtungen und Kontakte hat. Die valiumhaltigen Medikamente, die er einnimmt, legen die Vermutung nahe, daß es sich um eine ernste, vielleicht sogar lebensbedrohende Erkrankung handelt. Als junger Schriftsteller hatte er es in Österreich bereits zu einem Namen gebracht, aber nach persönlichen Krisen und künstlerischen Mißerfolgen seine Zelte hier fluchtartig abgebrochen und sich in der Folge in den USA ganz vom aktiven Schreiben zurückgezogen und auf die Rolle des Literaturvermittlers verlegt. Zurück in Wien mietet er eine unmöblierte Wohnung und begibt sich auf scheinbar ziellose Streifzüge durch die Stadt. Dabei stößt er auf zufällige Funde und Spuren, die ihn immer tiefer in eine Auseinandersetzung mit der Geschichte seiner Großmutter hineinführen - die Geschichte einer "arisierten Frau", die in schwierigen Zeiten den Schutz annehmen mußte, der sich ihr bot. Aus einer jüdischen Familie stammend, die mit dem Übertritt zum Katholizismus lange vor der Machtergreifung des rassischen Antisemitismus eine Maßnahme zur Wahrung besserer Lebenschancen setzte, verschlechterte sich die junge Marta durch eine nicht folgenlose Liaison mit einem slowakischen Friseur gerade dieselben. Sitzengelassen von ihrem Mann und ohne Unterstützung von ihrer Familie, muß die ungelernte Hilfskrankenschwester schließlich froh sein, mit dem fanatisch deutschnationalen Postbeamten Wilhelm Prinz jemanden gefunden zu haben, der ihr und ihrem kleinen Sohn eine gesicherte Existenz ermöglicht, allerdings um den Preis der Tabuisierung ihrer jüdischen Herkunft. Diese Zumutung erweist sich nach dem frühen, wenig heldenhaften Tod Wilhelms, der ihn nur wenige Wochen vor der herbeigesehnten politischen "Erfüllung" des "Anschlusses" in den Armen einer Prostituierten ereilt, allerdings als lebensrettend. Ein alter Kampfgefährte Wilhelms in der Illegalität protegiert Marta Prinz und verhilft ihr zu einer Stellung in der Geburtenstation des Allgemeinen Krankenhauses, in der sie auch durch den Krieg kommt. So, in der Arbeitskleidung der Krankenschwester, die in den Hungerjahren der Nachkriegszeit ihren Angehörigen Lebensmittel aus dem Krankenhaus zukommen läßt, ihrer Hingabe an die Musik und die Literatur frönt und sich zu guter Letzt zur allgemeinen Verwunderung ein Klavier anschafft, um an ihre Jugendjahre anzuschließen, lernt sie der Erzähler als Kind kennen. Und dieser Nachkriegsgroßmutter, die schrittweise zu ihrer (jüdischen) Identität zurückzufinden sucht, widmet sich der andere, vom Erzähler persönlich erinnerte Teil seines Buches. Henisch inszeniert den Erinnerungsvorgang Paul Spielmanns als schrittweises Rückfälligwerden eines einstmals Schreibsüchtigen. Der Erzähler gerät und begibt sich wohl auch selbst durch seine intensive literarische Arbeit in einen Schwebezustand, eine Form somnambuler Wachheit, eine "gesteigerte Aufmerksamkeit", die ihn immer tiefer in seine Erinnerungen hineinführt. Er reflektiert diese Veränderungen an sich und entwirft, eingewoben in die sich allmählich entfaltende Geschichte seiner Großmutter, so etwas wie eine Poetik seiner Spurensuche und seines Schreibens, die er in Anlehnung an Heimito von Doderer als "freisteigende Erinnerung" und als "produktive Empfänglichkeit" bezeichnet, derzufolge "von einem gewissen Zeitpunkt an alles zum Text gehört, daß es da einfach keine Zufälle mehr gibt, jedenfalls keine Zufälle, die nicht ins System passen". Am Anfang dieser systemimmanenten Zufälle steht ein Klavierflügel in einem Antiquitätenladen, der den Erzähler zurückführt in seine frühe Kindheit, in der er, unter einem solchen Flügel sitzend, fasziniert dem Spiel seiner Großmutter zuhörte; später sind es dann die "zufälligen" Bücherfunde in einem schäbigen Antiquariat in der Leopoldstadt, die den persönlichen Lektürekanon der Großmutter, die keine Trennlinie zwischen Trivial- und Weltliteratur respektierte, wieder auferstehen lassen. Zwar hat Henisch seinem Erzähler ein etwas überdeutlich arrangiertes Absprungbrett bereitgestellt, dessen Teile sich mitunter zu schön ineinander fügen, der erzählerische Höhenflug aber, zu dem es ihm verhilft, verdient uneingeschränkte Bewunderung. Bemerkenswert ist, daß Henisch bei dieser von Selbstverleugnung und Verzicht geprägten Lebensgeschichte weder eine Klage über die vertanen Möglichkeiten noch ein Lied von der stillen Größe der Demut und Selbstbescheidung anstimmt, sondern mit der ihm eigenen heiteren Melancholie die unbeugsame Lebenslust dieser kleinen Frau in atmosphärisch dichten Szenen auferstehen läßt. Daß er dabei häufig auf einen Märchenton zurückgreift, ist in mehrfacher Hinsicht stimmig. Sind es ja gerade Märchen, die am Anfang der konspirativen Komplizenschaft zwischen Marta und Paul stehen und die den Buben etwa das zerstörte Nachkriegswien mit seinen Schutthalden und verwilderten Gärten als einen verwunschenen Ort sehen lassen, wie er ihn aus Dornröschen kennt. Mit diesem Ton greift Paul scheinbar instinktiv jene archaische Erzählform auf, die er in seiner Kindheit so glücklich erfahren durfte und die er nun in seinem eigenen Schreiben nicht nur aufbewahrt, sondern dazu nutzt, auch das bisher Unausgesprochene ihres Lebens auf eine ihr gerecht werdende Weise zu erzählen: "Es war einmal ein Mann Mitte dreißig, der hatte im Krieg Hand und Heimat verloren. Es war einmal eine Frau Mitte zwanzig, der hatte ein anderer Mann ein Kind gemacht Marta und Wilhelm, keine Liebesgeschichte." Überhaupt ist in diesem Roman das Märchen ein wundersamer Zeuge einer kulturellen, bildungsbürgerlichen Kontinuität, deren einstmals eng gespanntes Netz heute nur mehr rudimentär vorhanden ist. Paul ist solcherart ein Privilegierter, denn bevor er selbst die Bücher aus der Vitrine der Großmutter lesen kann, kennt er sie schon aus ihren Erzählungen. Und hier finden sich Goethe und Schiller neben Vicki Baums "Menschen im Hotel" und Grimms Märchen stehen neben "Vom Winde verweht"; die Konterfeis der deutschen Klassiker kennt der Bub aus einem Band mit dem Titel "Deutsche Dichterporträts" und die Titel ihrer wichtigsten Werke aus dem Dichterquartett, das die beiden ein ums andere Mal spielten. Zugleich ist diese über viele Jahre hinweg so enge Verbindung zur Großmutter auch problematisch, macht sie ihn doch mit seinen speziellen Kenntnissen und Interessen in den Augen Gleichaltriger zum "komischen Vogel" und für seine Mutter und seine nachgeborenen Geschwister zu einem, den sie mit ihrer Liebe kaum erreichen konnten. Am Ende des Romans wird einiges von der Verworrenheit und Verdrängung von Pauls eigener Familiengeschichte sichtbar, etwa die Eifersucht der Geschwister auf den privilegierten Enkel und deren zornig-bitteres Unverständnis für sein Fernbleiben beim Begräbnis der Mutter, für die bei der "verrückten Liebe" zwischen Oma und Enkel kein Platz übrig geblieben war. Diese Einsichten erreichen ihn spät, aber er beginnt auch erst jetzt, sich aus dem Kokon herauszulösen, in den er den größten Teil seines Lebens versponnen gewesen scheint. Peter Henisch hat ein Buch über eine Frau geschrieben, die seiner wirklichen Großmutter "ziemlich ähnlich schaut, aber doch eine andere ist", wie er in einem Interview bekannt hat. Zugleich erzählt er die Geschichte eines Mannes, seiner Heimkehr und späten Versöhnung. Vor allem aber hat er ein Buch über das Faszinosum des Erzählens und Lesens geschrieben. Er zeigt uns in einem exemplarischen Fall Lesen als eine Überlebensstrategie (großartig die Parallel- und Engführung von Marta Prinz' selbstvergessener Lektüre von "Vom Winde verweht" und den Ereignissen rund um die letzten Tage der Ersten Republik) und als Möglichkeit, eine Vielfalt des Lebens, die Marta vorenthalten blieb, auf andere und dennoch emphatische Weise zu erfahren. Henischs einfach anmutende, aber überaus virtuose Sprachkunst fördert eine erstaunliche Fülle an einprägsamen Bildern zutage, und er praktiziert dabei souverän eine vielschichtige, mehrfach gebrochene und reflektierte Form des Erzählens, die ihrem Wesen nach nicht zu einem Ende kommen kann. So ist es nur konsequent, daß Henisch seine Bücher nicht als abgeschlossen betrachtet und sie in überarbeiteten Fassungen neu auflegen läßt. Vielleicht darf man sich in diesem Fall aber nicht nur auf eine Fortschreibung und Fortsetzung seiner subjektiven Chronik Österreichs freuen, sondern auch auf eine vom Autor gelesene Hörbuchfassung, die den unverwechselbar österreichischen Klang seines Romans zum Ausdruck bringen würde.


Rezension


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Personen: Henisch, Peter

Henisch, Peter:
¬Eine¬ sehr kleine Frau : Roman / Peter Henisch. - Wien : Deuticke, 2007. - 286 S.
ISBN 978-3-552-06067-8

Zugangsnummer: 4822
Romane, Erzählungen, Novellen - Signatur: DR Heni - Buch