Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html) Autor: Petra Fosen-Schlichtinger; Betrachtungen eines Arztes über soziologische und pädagogische Entwicklungen zum Thema Familie. Eine Polemik! (GS) Wenn sich ein Arzt nicht nur medizinischen Fragen widmet, sondern auch soziologische bzw. pädagogische Betrachtungen anstellt, ist das spannend. Es verspricht einen erfrischenden Zugang zum gewählten Thema. Noch dazu wenn er, wie Günther Loewit, jahrelange Erfahrung im Umgang mit Patienten einer Landarztpraxis hat. Soweit, so gut! Was der Autor von "Wir schaffen die Kindheit ab!" daraus macht, ist aber unbefriedigend. Auf knapp 300 Seiten legt er dar, warum es in Österreich zu wenig Kinder gibt, warum diese so sind, wie sie sind (kleine Egomanen, die von überforderten Eltern als Ballast angesehen werden), und welche Folgen das seiner Ansicht für den Einzelnen und das gesellschaftliche Gefüge hat. Loewit ist in seinen Darlegungen einseitig. Beim Lesen derselben gewinnt man den Eindruck: Früher war alles besser! Heute leben wir in einer ver-"rückten" Welt, die nur auf Konsum aus und nicht zu echten Beziehungen fähig ist. Kinder werden folgerichtig zu Tyrannen. Im Fokus der Kritik sind - natürlich! - Frauen, die mehr als die Mutterrolle bekleiden wollen. "Wir schaffen die Kindheit ab!" greift viele relevante Themen auf, in deren Behandlung ist das Buch aber undifferenziert und tendenziös! ---- Quelle: Pool Feuilleton; Weil wir nicht richtig leben, können wir oft auch nicht richtig sterben. Solange wir den Tod tabuisieren und aus dem Leben verbannen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir vom Leben nichts verstehen. Günther Loewit ist praktischer Hausarzt am Lande und wird täglich mit seltsamen Ideen und Krankheiten konfrontiert. Jeder, der zu ihm geht, will über den Umweg eines Krankengesprächs letztlich etwas über den Sinn des Lebens erfahren. Dabei hat der Arzt augenzwinkernd beste Auskünfte parat: Erst mit dem Tod tritt vollkommene Gesundheit ein. (Sokrates) Oder: Der Körper ist selbst ein guter Arzt. (220) Es ist kein Zufall, dass Günther Loewit zuerst über das Sterben philosophiert, ehe er sich dem Thema der abgeschafften Kindheit widmet. Gerade weil wir am hinteren Teil des Lebens nichts reden wollen, widmen wir unsere ganze Aufmerksamkeit dem vorderen Teil der Biographie, also der Kindheit. Dabei geht die gesamte Kohle ins Sterben, in den letzten drei Monaten verbraucht ein Mensch genau soviel medizinische Ressourcen wie die neunzig Jahre davor. Und jeder, der künstlich am Leben erhalten wird, nimmt einem Jungen eine Therapiemaßnahme weg, auch wenn man es so verkürzt niemals vergleichen darf. Das Bemerkenswerte an diesem Kindheits-Reader ist seine logische Konstruktion: Aus einer Unzahl von Fällen werden anonymisiert diverse Probleme hervorgehoben, es gibt jeweils ergreifende Fallgeschichten und eine Lösung, die in den meisten Fällen damit endet, dass man die gesellschaftliche Komponente jedes individuellen Falles nicht aus dem Auge verliert. Drei schöne Beispiele: 1. Im Flugzeug tyrannisiert ein Fratz erster Klasse das ganze Aircraft, weil niemand im Stande ist, dem Kind die Schranken zu zeigen. 2. Im Railjet sitzt eine Frau mit zwei Schoßhündchen auf einem Vierer-Sitz und kläfft einer vorbeiziehenden Familie nach, dass sie keine Kinder mag. 3. Der Schularzt wird in einer Volksschulklasse mit Lärm angepöbelt, die Lehrerin versucht mit einem Glockenstab harmonische Ruhe einzuleiten, vergebens. Erst als der Schularzt Ruhe brüllt, nehmen ihn die Kids als Autorität wahr und pfeifen auf den Glockensound. Mit diesen Beispielen lassen sich allerhand Zustände der Gesellschaft aufdröseln. Die neuen Lehrerinnen und Lehrer buhlen um die Gunst der Kinder, statt ihnen zu zeigen, was Sache ist. Wenn auf der Autobahn die Rettungsgasse gebildet wird, kann es durchaus sein, dass sie für die Tierrettung gemacht wird, die einen akuten Herzinfarkt eines Tieres behandelt. Die Werte haben sich generell verschoben, Schwangerschaft gilt als Krankheit, das Kind als Wertanlage, das Leben als Risikofall. Als Leser findet man unzählige Erzählstege, wo man seine persönlichen Erfahrungen andocken kann. Und die Medikamente des Dr. Günther Loewit bestehen aus Zweierlei: Für jeden Heilungsprozess braucht es eine entsprechende Geschichte dazu. Für die wesentlichen Fälle ist letztlich jeder selbst zuständig, der Arzt kann ihm höchstens zunicken. Das Gesundheitssystem, Pädagogik und Gesellschaftsphilosophie mögen zwar immer wieder entgleisen, solange es aber geduldige Typen gibt, die die gefühlte Unordnung wieder einzugleisen vermögen, ist noch nichts verloren. Helmuth Schönauer
Rezension
Personen: Loewit, Günther
Loewit, Günther:
Wir schaffen die Kindheit ab! : Helikoptereltern, Förderwahn und Tyrannenkinder / Dr. Günther Loewit. - Innsbruck : Haymon, 2016. - 332 S.
ISBN 978-3-7099-7271-7
Pädagogik - Signatur: PN Loew - Buch