Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html) Autor: Elisabeth Zehetmayer; Ein schmaler Roman über das Überschreiten realer und geistiger Grenzen - eigenwillig und wenig erhellend. (DR) 1989, in einem Wald an der österreichisch-tschechischen Grenze: Während in den umliegenden osteuropäischen Staaten der "Eiserne Vorhang" fällt, verliert sich Malina, die halbwüchsige Tochter eines österreichischen Zöllners, mehr und mehr in Tagträumen, düsteren Vorahnungen und veränderten Bewusstseinszuständen. Manche bezeichnen das eigenartige Mädchen als geisteskrank. Tatsächlich ver-rücken in dieser Zeit der großen Wende nicht nur politische, sondern auch persönliche Grenzen. Da wird der tschechische Kollege vom Zoll für den Vater Malinas vom Feind zum Freund und plötzlich erscheint Unwahrscheinliches als möglich und real. Thomas Sautner greift altbekannte philosophische Fragestellungen auf, es geht um Freiheit, Menschlichkeit und die Suche nach der Wirklichkeit. Ist das Leben vielleicht doch nur ein Traum und wir sind alle bloße Schatten wie im berühmten Höhlengleichnis? Calderón de la Barca, Grillparzer, Sokrates und Platon lassen grüßen! Sautners bisherige Romane "Milchblume", "Fuchserde" oder "Die Älteste" haben viele begeisterte LeserInnen gefunden. Obgleich Sprache und Stil ansprechend sind, hat mich der vorliegende Band nicht überzeugt. Die historisch und politisch bedeutsamen Geschehnisse von damals werden in blutleeren Einschüben geschildert, die nüchternen Zeitungsmeldungen ähneln. Dafür werden die Tagträume und entrückten Bewusstseinszustände der hochsensiblen Protagonistin Malina detailliert und metaphernreich ausgeführt. Dem Waldviertler Autor geht es weniger um eine glaubhafte Geschichte, seine Vorstellung von Friede, Freiheit und Güte steht im Vordergrund. Sautner will die Welt verbessern, leider tut er das in einem bedeutungsschwangeren, mitunter belehrenden Ton. Ich empfand diese Gedankenspiele als langatmig und bemüht. Vermutlich fasziniert dieses von geheimnisvollen Wesen bevölkerte, metaphysische Erzähluniversum aber LeserInnen, die Literatur á la Paolo Coelho schätzen. ---- Quelle: Literatur und Kritik; Autor: Anton Thuswaldner; Leider nein Thomas Sautners »Das Mädchen an der Grenze« Es gibt Anzeichen dafür, dass sich die jüngste deutschsprachige Literatur mit einem Erzählrealismus, der sich im Hier im Heute festsetzt oder Geschichtsräume ausschreitet, nicht länger abfinden will. Sie sucht nach etwas anderem hinter der Welt des Alltags, der Gewöhnlichkeit und des Lebens im Zeitalter der Bodenhaftung, sie sucht nach einer Spiritualität vielleicht, wie sie sich einem Einzelnen erschließt, der für religiöse Empfindungen unter der Aufsicht einer Verinnerlichungs-Instanz nicht zu haben ist. Unsere Wirklichkeit, sagen solche Bücher, sind nur der Ausdruck einer Möglichkeit. Träume, Fantasien, Einbildungen stehen gleichberechtigt neben jener Realität, in der wir uns eingenistet haben. »Der Oberfläche sollte ich angehören, nur noch der Oberfläche, die alle das Leben nannten.« So benennt die Erzählerin ihre Lage, Malina, ein Mädchen, das aus dem Rahmen fällt und deshalb auch gleich aus der Gunst der Gesellschaft. Sie tickt anders als gewohnt, das macht sie zur Außenseiterin, eine psychische Krankheit wird ihr nachgesagt. Das passiert schnell jemandem, der seine Nase über die unmittelbaren Erfordernisse der Notwendigkeit hinausstreckt. Malina kann nichts für ihre unangenehme Fähigkeit, in andere Zeiten und Räume zu schauen und ins Innere der Menschen obendrein. Das macht sie unheimlich, unberechenbar und verstörend für alle, die keine Fragen zulassen wollen, die über das unmittelbare Dasein hinausgreifen. Gut geht es Malina damit selber nicht, immerhin bekommt sie Einblick in Zustände, die zu viel sind für einen jungen Menschen. Die einen meinen, sie schaut ins Narrenkastl, während sie Probleme hat, sich zurechtzufinden angesichts eines Bilderansturms, der sie unvermutet attackiert: »Vergangenheit und Zukunft erlebte ich wie unterschiedliche Bilder ein und desselben. Wie die Vorder- und Rückenansicht eines dahinschreitenden Menschen.« Malina erfährt eine Welt, zu der andere keinen Zugang haben. Das wühlt sie gehörig auf. Sie ist das Mädchen an der Grenze gleich in einem doppelten Sinn. Sie schafft es, auf die andere Seite der Wirklichkeit zu gelangen, und sie lebt mit ihrer Familie in einem wüsten Landstrich in unmittelbarer Nähe zur tschechischen Grenze, wo ihr Vater als Zöllner arbeitet. Einmal überschreitet sie auch diese politische Grenze, als die Kinder heimlich das Staatsgebiet wechseln und Malina genau dort einen Anfall bekommt und bewusstlos liegen bleibt. Von fremden Grenzern wird sie gefunden und zu deren Grenzstation gebracht. Die Sache geht glimpflich aus. Die Menschen auf der Ostblockseite waren auch friedliebende Bürger, keinesfalls daran interessiert, aus dem Vergehen eines Kindes einen politischen Skandal zu schlagen. Als wesentlich gefährlicher, weil schwerer zu durchschauen, erweist sich der Seitenwechsel Malinas auf das Gebiet des Irrationalen auch für den Autor Thomas Sautner. Das Leben im Grenzgebiet, der Aufgriff durch fremde Grenzsoldaten, das Verhör des Kindes das alles lässt sich nach einem vorgegebenen Konzept erzählen. Die Welt vor dem Zusammenbruch des Kommunismus gehorchte Spielregeln, auf die der Roman Rücksicht nimmt. Was aber macht Sauter aus dem Übertritt in jenes Reich, in dem die Gesetze der bürgerlichen Welt außer Kraft gesetzt sind? Die junge Erzählerin spricht von der »Auflösung der Welt«, sie fühlt sich, »als müsste ich verschiedene Leben zugleich bewältigen«, gibt Auskunft über »zwei Realitäten« und muss mit Schrecken erleben, wie ihr die Wahrnehmung »zerwackelt«. Das ist aus der Innensicht eines Menschen erzählt, der unglücklich ist über die unangenehme Gabe und lieber unbehelligt von solchen Einflüssen leben möchte. Eine Wendung ins Kindische nimmt der Roman, als Figuren wie Selatura, Zenon und Berkeley ihren Auftritt bekommen. Selatura ist ein Einflüsterer im Kopf Malinas, der dem Erklärungsbedarf, den die Geschichte erzeugt, mit einfachen Wahrheiten begegnet. »Alles ist wirklich«, redet er Malina ein und: »Jedem sein Wissen, jedem sein Quäntchen vom Vielleicht.« Sein Resümee lautet: »Das, was nicht ist, ist gleich dem, was ist!« Das klingt so, als würde Hermann Hesse seinen Siddharta noch einmal auf die Gegenwartsliteratur loslassen, um scheinphilosophische Gefechte gegen eine eindimensionale Wirklichkeit zu führen. Aber es kommt noch schlimmer. Es beginnt auch noch eine Gesellschaft von Schöpferwesen, sich über die Menschheit zu unterhalten, die nichts anderes ist als deren Erfindung. Als eine vertrottelte Bande von Spielern müssen wir uns diese Kerle vorstellen, die sich mit den Menschen einen Spaß erlauben: »wir haben sie geschaffen und wenn wir den Stecker ziehen, ist es auch wieder aus mit ihnen.« Eigentlich gibt es die Menschen gar nicht, führen als »hoch entwickelte Produkte unserer Vorstellungskraft« ihr tristes Dasein. Aber so real, dass sich ein Schöpferwesen einzuklinken vermag in das Wesen einer Person, ist die Menschheit dann doch. Deshalb funktioniert ja Malina nicht wie vorgesehen, weil sie gewissermaßen besetzt wurde von einem dieser Schöpferwesen. Alles, was ist, erweist sich als programmierte Realität. Von etwas so Hehrem und Großem wie der Autonomie des Menschen kann also keine Rede sein. Überhaupt steht ein Denkfehler im Herzen des Romans. Sind Menschen bloß virtuelle Wesen, Fiktionen ohne materialistische Grundlage oder doch handfeste Individuen, denen ein fester Ort auf dieser Welt gebührt? Für Sautner ist in diesem Buch alles möglich, was den Eindruck von Halbherzigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber seinen Charakteren hinterlässt. Unentschiedenheit ist nicht der Ausdruck von Toleranz, sondern von Bequemlichkeit. Es ist ein schwacher Trost, dass sich ja alles im Kopf der jungen Dame abspielt, wodurch das Erzählte also bloße Einbildung sein kann. Im schlimmeren Fall spricht aus dem Kopf Malinas doch eine Art Schöpfer der unangenehmen Art, ein Einflussmonster gleichermaßen. In jedem Fall befindet sich Malina in einer Klinik im Ausnahmezustand, an der Kippe zwischen Leben und Tod, einem Ort, von dem wir sowieso wenig wissen und der deshalb ein Schriftstellerparadies ist, das mit Fantasien gefüllt werden darf. Ihn aber wie ein Reich aus der Fantasy-Literatur aussehen zu lassen, ist doch die Billigversion spekulativer Unvernunft. Wenn dann auch noch der Kommunismus als »nur eine Illusion« abgetan wird, von einer inneren hochgradigen Verstörung unvermittelt auf politische Zustände geschlossen wird, kippt der Roman vollends ins Haltlose. Eine zunehmende Floskelhaftigkeit ergreift Besitz von der Erzählerin, die sich mit Gemeinplätzen zufrieden gibt, die in einem Buch, das ernst genommen werden will, nichts zu suchen haben. »Die Welt war zweigeteilt gewesen und halbwegs überschaubar. Doch ab sofort war das vorbei. Und obwohl sich die Veränderung direkt vor unseren Augen abgespielt hatte, verstanden wir ihr Kommen und Werden erst Jahre später.« Das ist das Eingeständnis einer Kapitulation vor politischen Realitäten. Ein Buch, dem Dauer bestimmt ist? Leider nein. ---- Quelle: Pool Feuilleton; Kaum ein Begriff bedroht die Menschen so sehr wie eine Grenze. Ob im physischen Abwehrkampf gegen einen Maschenzaun oder in der psychischen Faszination eines Grenzgängers, immer reizt es die Menschen, diese Grenzen zu überschreiten. Thomas Sautner stellt in seinem Roman vom "Mädchen an der Grenze" eine zwie-sichtige, mehrschichtige Heldin vor. Malina ist ein höchst sensibles Mädchen, das schon beim ersten Ertasten der Welt auf ungewöhnliche Vorgänge stößt. "Mit Neugier beobachtete ich die Auflösung der Welt." (13) Diese Sehweise ist auch das große Geheimnis des Romans, die Heldin nimmt zwar eine Ich-Perspektive ein, kann diese aber nicht in die übliche Welt transformieren. Was bleibt, ist eine Wahrnehmungstrennung zwischen dem Subjekt und der Umwelt. Dieser kaum darstellbare Zustand spielt in einem beinahe romantischen Ambiente an der kalten Grenze zwischen der Tschechoslowakei und Österreich. Vater ist beim Zoll, die Familie lebt mitten im Wald im Paradies, freilich abgeschnitten von der Grenze, die an manchen Stellen reine Fiktion ist. Die Zöllner haben in ihrer Abgeschiedenheit eine eigene Völkerverständigung entwickelt. "Nicht schießen, weil wenn du scheißt, wird geschossen!" (27) Eines Tages gerät Malina über die Grenze und wird von den Jenseitigen aufgegriffen. Es ist ihr nicht genau klar, was rund um sie geschieht, jedenfalls hat sie eine gewisse Grenze überschritten und hört noch das Wort Nervenzusammenbruch, ehe die Wahrnehmung diffus wird. In einer Welt, die sich aus Therapien, seltenen Geschichten und komischen Farben zusammensetzt, sitzt Selatura am Krankenbett. Sie ist vielleicht aus einer anderen Welt, aber ihre Geschichten aus einem Zirkusartigen Zelt stellen eine brauchbare Alternative dar zu den Ereignissen, die man der Erzählerin bislang zugemutet hat. Mal erzählt ein altes Männlein was, dann setzt sich ein alter Hund zur Gesellschaft, von ferne gibt es Nachrichten und neue Weltlagen. Der Eiserne Vorhang ist gefallen. "Du mit deiner Wirklichkeit!" sagt jemand, der von all dem nichts versteht. Der Roman bedient sich diverser Schrift-Typen und eines wechselnden Layouts, um diese verschiedenen Wirklichkeiten anzudeuten. Die einzelnen Wahrnehmungen werden so lange unkoordiniert herumgeistern, bis sie nicht in einer Kraftanstrengung zusammengefügt werden, durch ein Buch vielleicht. Die Heldin probiert es mit einem Buch, das Malinas Buch heißen wird. "Du musst im Hirn. Sortieren." (143) Man kämpft als Leser mit der Heldin, die richtigen Worte zu finden und einen Sinn zu konstruieren, der scheinbar alles erklärt. Thomas Sautner hat einen beinahe magischen Grenz-Roman geschrieben, worin sich jede Grenze relativiert, wenn sie auch nur angesprochen wird. Während des Lesens tun sich die Begriffe auf und man staunt, wie grenzenlos letztlich alles gedacht werden kann. Helmuth Schönauer
Rezension
Personen: Sautner, Thomas
Sautner, Thomas:
¬Das¬ Mädchen an der Grenze : Roman / Thomas Sautner. - Wien : Picus-Verl., 2017. - 146 S.
ISBN 978-3-7117-2047-4
Belletristik allgemein - Signatur: D0 Sau - Buch