Der Romanschreiber als unzuverlässige Gestalt / Zu Norbert Gstreins "Die englischen Jahre" Lebensgeschichten funktionieren als Identitätskonstruktionen, mit ausgewählten Stücken interpretierter Erinnerungen gebaut, in einen strategischen Muster-Rahmen gesetzt û das Leben als kohärente Erzählung, wissen wir freilich, beruht auf rhetorischer Illusion. Erinnerungen sind Wege zurück, auf unsicherem Terrain, verschlungen und doppelbödig; auch die Bruchmoderne beschreitet sie vielfach, und einige Retourkutschen fahren neuerdings gar auf Rückert oder Hamann ab. Der Rekurs auf die Alten bei gleichzeitig neuem Kurs hat hierzulande immerhin so unterschiedliche und überzeugende Werke gezeitigt wie Ransmayrs Letzte Welt, dann Grond Absolut Homer und soeben das grosse babelÆn von Ferdinand Schmatz, in denen nicht zuletzt die Ambivalenz des kulturellen Erbes sowie eine prinzipielle Unsicherheit des Gedächtnisses, der Wahrnehmung, der Realitäten zum künstlerischen Ausdruck kommen. So weit geht Norbert Gstrein nicht in die Vergangenheit, sein Hintergrund freilich ist ein ähnlicher, von ihm auf die Nazizeit û den anderen großen Horizont österreichischer Gegenwartsliteratur û bezogen und als mögliche Ambivalenz von Exilerfahrungen angelegt: Die englischen Jahre eines österreichischen Dichters, der als Wiener Jude auf die britische Insel flüchtete und dort 1940 interniert wurde, erzählt aus der Sicht der Nach-Forschungen und der Phantasie einer »Nachgeborenen«. Einer der Gründungsmythen avanciert-moderner Literatur trägt die Suche nach der vergangenen Zeit im Titel und benützt als Erinnerungsmotor das Teegebäck »Madeleine«. Ausgerechnet so heißt das letzte Kapitel in dem neuen Roman von Norbert Gstrein, der seit seinem ersten Buch Einer (1988) als Spezialist für vielschichtige Erzählanlagen gilt: für manche ein Posenkünstler des kalkulierten Manierismus, für andere ein Meister polyphoner Prosa. Daß die gerade wieder vielbegangenen Wege zurück eine brettelebene Geschichte sein könnten, erscheint ihm jedenfalls als hölzerne Vorstellung von Drauflos-Erzählern; hinter »Joyce, Döblin oder wie sie alle heißen« (Musil und Broch hätte er nennen können) dürfe man nicht zurückfallen, betonte er in einem Interview im Wiener Falter. Entsprechend steht im Roman Die englischen Jahre am Anfang die Erinnerungs-Ikone vom Schriftsteller als Monolith, am Ende der Romanschreiber als unzuverlässige Gestalt, und dazwischen werden die Biographie-Mythen Identität, Wahrheit und Wirklichkeit demoliert. Gstrein setzt auf eine û eben gegen monolithische Vor-Bilder gestellte û Erzählstrategie, die es ihm ermöglicht, verschiedene Handlungsstränge, Tiefenschichten und Zeitebenen zu verzahnen, zu spiegeln und gegeneinander auszuspielen. Dabei bedient er sich gleich mehrerer narrativer Filter, durch die seine höchst kunstvoll kalkulierte Prosa (durchaus doppeldeutig gemeint) aufgeht: Die ästhetische Rechnung geht sich wunderbar aus, aber es bleibt kein Rest und das Endresultat steht bruchlos fest û ließe sich überspitzt bemerken. Ich nehme hier eine gängige Rezensentenformel für die Literatur von Norbert Gstrein auf, die besagt, daß er, der studierte Mathematiker, seine Prosa mathematisch präzise baue, ohne daß dies näher erklärt würde; darauf möchte ich zurückkommen. Gleich auf der ersten Seite der Englischen Jahre kontert die Ich-Erzählerin den Wort-Mythos des Beginnens: »Am Anfang stand für mich der Mythos, Hirschfelder, die Schriftsteller-Ikone, der große Einsame, der Monolith, wie es hieß, der seit dem Krieg in England ausharrte und an seinem Meisterwerk schrieb« û der Widerhaken, der den ganzen Roman in nuce enthält, steckt in der Mitte des Satzes, im »wie es hieß«; am Ende des Absatzes erklärt die Wiener Assistenzärztin diese Biographie vom Hörensagen zu »lauter Klischees«. Ihren Nachforschungen folgt der Roman in die Tiefen der Zeit, der Erinnerungen und der (falschen) Bilder. Es sind dies einerseits die Gespräche mit den Frauen, mit denen Hirschfelder gelebt hat, und andererseits die der Exilforschung bekannten, genau datierten Fakten. Um einer Bedrohung der Sicherheit Großbritanniens »von innen« entgegenzuwirken, wurden Mitte September 1939 alien tribunals gebildet, die nach einer Befragung die Ausländer einer von drei Kategorien zuordneten, »wobei u. a. die Abneigung einzelner Tribunalvorsitzender gegenüber Kommunisten und Sozialisten, aber auch Denunziation zu Fehleinschätzungen und Mißverständnissen führten« (Wolfgang Muchitsch in: Österreicher im Exil, Großbritannien 1938û1945; ÖBV 1992). Kategorie A galt als Sicherheitsrisiko und führte zur sofortigen Internierung; am 16. Mai 1940 wurde die Inhaftierung aller männlichen »feindlichen Ausländer« der Kategorie B angeordnet; im Juni folgte eine Massenverhaftungswelle von Personen der »Zuverlässigen«-Kategorie C. Anfang Juli 1940 waren über 27.000 deutsche und österreichische enemy aliens interniert, davon 14.000 (darunter Robert Neumann, Theodor Kramer) auf der Isle of Man, »wobei das anfängliche Zusammenleben der Flüchtlinge mit Sympathisanten des Nationalsozialismus zu erheblichen Spannungen führte« (Muchitsch). Einige tausend sollten nach Kanada und Australien verschifft werden; am Morgen des 2. Juli wurde der requirierte Luxusliner Arandora Star 125 Meilen nordwestlich der irischen Küste von einem deutschen U-Boot versenkt, was laut Muchitsch 174 deutschen und österreichischen sowie 486 italienischen Internierten das Leben kostete. In diesen von ihm exakt recherchierten Rahmen setzt Gstrein seine Brüche mit imagionären Zahlen: die Bilder von Hirschfelders Lebensgeschichte, wie sie die Wiener Ärztin aus den Gesprächen, aus Fragmenten eines Tagebuchs des Schriftstellers und aus der eigenen Phantasie zusammensetzt. Auch ihr Text, der Roman, steht im exakten Raster einer symmetrischen Anordnung der acht Kapitel, gespiegelt in einer Mittelachse zwischen 4. und 5. Kapitel: abwechselnd ein Bericht der Ich-Erzählerin von der Begegnung mit einer Frau Hirschfelders (1 Margaret / 8 Madeleine; 3 Catherine / 6 Clara) und eine datierte Schilderung aus der imaginierten Innensicht von Hirschfelder, der sich mit du anspricht (2 London / 7 Arandora Star; 4 / 5 Isle of Man). Der genaue Bau aber birgt die Unsicherheiten zahlreicher Schichten der Narration: Hirschfelder erzählt kurz vor seinem Tod seiner dritten Frau, daß er 1940, vor mehr als fünfzig Jahren einen Mord begangen habe; sie erzählt es der Ich-Erzählerin in Gstreins Roman, der eben jenen Titel trägt, den Hirschfelder dem verschollenen Manuskript eines Meisterwerkes, an dem er angeblich gearbeitet haben soll, zugedacht habe. Die Spuren führen immer mehr auf das schwankende Terrain des Möglichkeitssinnes, bis am Schluß die zweite Ehefrau, jene Madeleine, die Rätsel des Eintauchens (in eine û transformierte û Erinnerung, in eine û falsche û Identität) klärt: »Es war Madeleine, die mir von dem Schiffsuntergang vor der irischen Küste erzählte, und davon, wer nun tatsächlich an Bord gewesen war«, beginnt das letzte Kapitel. Im Kapitel davor freilich ist aus der Du-Perspektive schon die Katastrophe vom 2. Juli geschildert: Hirschfelder war beim Untergang der Arandora Star gestorben, er hatte seine Identität im Lager an jenen »vierten Mann« Harrasser verspielt. Dieser war auf der Isle of Man ein »Neuer« im Zimmer der drei Juden aus Wien und wurde der Zugehörigkeit zur Nazigruppe verdächtigt; nach dem Krieg avancierte er als Hirschfelder zum jüdischen Vorzeigeschriftsteller und österreichischen Staatspreisträger. Diese Biographien läßt Gstrein durch fremde Blicke auf fremde Bilder in fremden Rahmen konstruieren und dekonstruieren. Die Männerwelt der englischen Jahre ersteht in Gesprächen und Vorstellungen von Frauen, die unterschiedliche, teils konträre Wahrheiten und Interpretationen anzubieten haben. Einer der häufig wiederkehrenden Sätze der Ich-Erzählerin lautet »ich erinnere mich (nicht mehr)«, und bevor sie zum ersten Mal in das Du Hirschfelders schlüpft, streicht sie den Möglichkeitssinn hervor, bei dem die Phantasie im Nenner und die Unsicherheit im Zähler steht: »Ich glaube jetzt, es muß da geschehen sein, daß Hirschfelder sich endgültig in meine Gedanken einschlich, und ich weiß nicht, warum, aber es war seither die Nacht vor seinem Abtransport auf die Isle of Man, an die ich zuerst dachte, wenn ich ihn mir vorzustellen versuchte (à), und es erstaunte mich, wie leicht ich in meiner Phantasie die Leerstellen überbrückte.« Es folgt der letzte Satz im ersten Kapitel: »Meine Gewißheit, daß es so und nicht anders gewesen sein mußte, wie ich es mir ausmalte, wurde umso stärker erschüttert, je weiter ich meine Nachforschungen trieb, bis ich mir nicht mehr sicher sein konnte, daß es wirklich so war, aber immer noch sicher, daß es zumindest so hätte sein können.« Stimmt; stimmt auch nicht. In dem Rahmen stecken falsche Bilder û von Gstrein geschickt auf der metaphorischen Ebene mit dem Photo-Leitmotiv verstärkt. Die Handlung beginnt bei der Vernissage im Österreichischen Institut in London. Gezeigt werden Porträts von Personen, für die drei Identitätswörter stehen: »Überlebende«, »Vertriebene«, »Emigranten«. Hirschfelders Photo »neben dem Eingang zur Toilette« läßt die Wiener Ärztin nicht mehr los. Bei einem neuerlichen Ausstellungsbesuch am Ende des Romans aber findet sie eine Leerstelle vor; da sei nie eines gewesen, erklärt die Institutsleiterin. Es stellt sich heraus, daß das Photo zurückgezogen worden war, und als die Ich-Erzählerin bei Margarete, der Witwe, nachfragt, schickt jene das Bild, »das jetzt über meinem Schreibtisch hängt und das mir längst vorkommt wie hundertmal übermalt«. Die Photographie, heißt es leitmotivisch in der »Antiautobiographie« (so Hans Höller) Auslöschung. Ein Zerfall von Thomas Bernhard, »ist eine heimtückisch perverse Fälschung«. Wenn Hirschfelder »tatsächlich an seiner Autobiographie« Die englischen Jahre geschrieben habe, meint die Ärztin letztlich, »wird darin wahrscheinlich auch von dem anderen Mann die Rede gewesen sein«. Ich ist also ein anderer, Geschichten sind Erfindungen, Aussagen sind widersprüchlich, auch Todeslisten stimmen nicht, alles Erzählte ist »geklaut«. Der Bilderstreit ist ein Streit um die richtige Geschichte. Gstreins poetisches Kalkül, das mir sehr gelungen scheint, ist eine Rechnung mit imaginären Zahlen, mit der Unbekannten X. Die oft betonte Mathematik seiner Prosa steckt in den größeren Strukturen wie auch in den feinen Details. Bei der Figurenkonstellation wechseln Zweier- und Dreiergruppen: Zu den drei Männern im Lager kommt ein Vierter (3:1), der »Neue« schlägt ein Kartenspiel um die Deportation nach Kanada vor (2 gegen 2), als Hirschfelder verliert, ist er ebenso der Isolierte wie in der Wiener Vergangenheit zwischen Mutter, Vater und Stiefvater (1:3), während Harrasser deswegen nach England geschickt wurde, weil er und seine Eltern einem kleinen jüdischen Mädchen die Hilfe versagten (3:1); von den vier Frauen hat eine, die nicht mehr sprechen kann, den »wahren« Hirschfelder gekannt, drei waren mit Harrasser verheiratet. In den Abschnitten aus Hirschfelders Du-Sicht drückt Gstrein die Unsicherheit und Verschwommenheit des Erzählens in einem verschachtelten System verschiedener Stimmen aus, in denen Zeit- und Handlungsebenen ineinander verschoben sein können. Dies beginnt im zweiten Kapitel, und hier setzt der erste Dialog eine Spiegelkonstruktion ein: û Alles in Ordnung?, und es kam wie ein Echo zurück, û Alles in Ordnung. Die zwei englischen Posten, die sprechen, tauchen für Hirschfelder zwar nur kurz in einem Rahmen (eines Fensters) sichtbar auf, aber er hört sie immer wieder. Das Wort »hören« ist denn auch in diversen Abwandlungen und Varianten ein wesentliches Basiselement dieses Kapitels: Die beiden Gefährten, »der Blasse« und »der mit der Narbe«, führen zweimal einen knappen dreiteiligen Dialog (»Hörst du?«, »Was soll ich hören?«, »Hörst du nicht?«); inzwischen steht eine Passage, in der Hirschfelder in Wien seine Mutter hört (der erklärende Ein-Satz-Abschnitt ist von drei eingeschobenen »hörtest« rhythmisiert), wie sie dreimal den Stiefvater auffordert, den Vater nicht zu denunzieren (»hör auf«). Diese Konzentration auf das Hören und das Sagen findet ihre Entsprechung im größeren Rahmen. Immer handelt es sich um Beobachtungen im Dunkeln, da der Feind jeweils unsichtbar, »draußen« ist: die Nazis in Wien, die deutschen Flieger über England, die U-Boote im Atlantik. Das Bedrohliche ist zu hören, und dann heißt es: »sie kommen«. Im Untergangs-Kapitel sieht Hirschfelder auf der Arandora Star wieder einen Posten vor dem Fenster: »du hörtest sein plötzliches Husten, hörtest, wie er sich räusperte, (à) horchtest, (à) horchtest (à), / Die Explosion kam ohne Vorwarnung«. Derart bietet Norbert Gstrein einen gelungenen Roman, den anspruchsvollen Widerpart einer Authentizitätsbehauptung von Lebensgeschichten (jene der »Grande Dame« Hilde Spiel serviert er in einer Anspielung ab). Trotz der kunstvollen Anlage, der Vielschichtigkeit en gros und en détail, der feinen Beobachtungen erscheint er mir dennoch etwas antiquiert, u. a. weil die vierziger und die neunziger Jahre dieselbe Patina tragen. Und das letzte Kapitel, in dem Gstrein noch eine Ehrenrunde dreht, damit auch wirklich alle verstehen, gibt eine Aufklärung, die nicht ganz befriedigen kann. Wenn alles Erzählte falsch ist, dann auch das im Roman Geschilderte einschließlich dieser Behauptung, also würde diese Geschichte doch wieder stimmen usw. û das Paradoxon, das Thomas Bernhard im Umspringbild einbezieht, berechnet Gstrein nicht. Warum sollte nach all den falschen Bildern des Rätsels Lösung, die am Schluß erklärte Biographie, ein anderer Monolith, »wahr« sein? Wieder »alles in Ordnung«? Oder will Gstrein dadurch zum Weiterdenken einladen, daß ja die Ich-Erzählerin ihrem Ex-Gefährten Max die Geschichte überläßt, damit er daraus einen Roman mache? Dies wäre im Vergleich zum Erklärungsüberschuß des achten Kapitels zu kurz angespielt, und im letzten Satz sollte dann nicht stehen »An den Tatsachen änderte es nichts«. Immerhin schließt Gstrein mit den û auf den Schriftsteller bezogenen û Worten: »was für ein unzuverlässiger Zeitgenosse er war«. *LuK* Klaus Zeyringer
Rezension
Personen: Gstrein, Norbert Zeyringer, Klaus
Gstrein, Norbert:
¬Die¬ englischen Jahre : Roman / Norbert Gstrein. - Frankfurt a. M. : Suhrkamp, 1999. - 360 S.
ISBN 978-3-518-41063-9
Belletristik allgemein - Signatur: D0 Gst - Buch