Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html) Autor: Cornelia Gstöttinger; Eine Chronik der Verluste, der Heimat- und Sprachlosigkeit. (DR) "Könnte man sich all die Geschichten wie einen Schutzschild vor den Leib halten, sich fremde Sätze umhängen wie einen Tarnmantel" (S. 15), so der poetisch formulierte Wunsch der Protagonistin Maja in Kindertagen. Ein Schutzschild könnte Maja, deren Heranwachsen hier subtil in erinnerten Episoden erzählt wird, gut gebrauchen. Mit dem frühen Tod ihrer Mutter hat die Protagonistin auch ihre Muttersprache, das Weißrussische, verloren und mit ihr die Trostsätze der frühesten Kindheit, die Geborgenheit waren. Die Tante, bei der sie aufwächst, spricht nicht mit ihr über die Vergangenheit und so bleibt in Maja ein Sehnen, die Leerstellen in ihrer Biografie zu füllen. In dem Polen Marek, der einst im Zweiten Weltkrieg als Zwangsarbeiter in die Gegend kam, findet die kleine Maja einen Vertrauten - glaubt sie doch im Polnischen den Klang ihrer Muttersprache zu erahnen. Der Schmerz der Heimatlosigkeit durchdringt die melodiöse Prosa der in Innsbruck geborenen Autorin Carolina Schutti und lässt eine traurig-melancholische Atmosphäre entstehen: Maja ist eine Getriebene, ein in seinen Grundfesten erschüttertes Ich, dem eine ureigene Geschichte fehlt. Seltsam gedämpft wirkt ihr Alltag als Erwachsene. Wie existieren, wie den Weg finden in die Zukunft, zu einer neuen Familie, ohne die eigenen Wurzeln? Maja geht Erinnerungsspuren nach, versucht, Fenster in die Kindheit zu öffnen - mit Erfolg, wie es scheint: Denn eingerahmt wird die Erzählung von Kapiteln in der Ich-Form, als hätte die Protagonistin mit dem Erinnern von Stationen aus ihrem Leben, mit der Reise in das Land ihrer Mutter zu einem Ich, einer Identität und damit einem Stück Heimat gefunden. - Anspruchsvolle österreichische Literatur. Empfehlenswert! ---- Quelle: Forschungsinstitut Brenner-Archiv (http://www2.uibk.ac.at/brenner-archiv/) Autor: Anton Thuswaldner; Eine Figur steht am Rand. Sie kommt von außen, lebt abseits der Dorfgemeinschaft allein, wird mit Argwohn beobachtet. Und doch geht ohne diese Figur in Carolina Schuttis neuer längerer Erzählung, ihrem zweiten Buch, gar nichts. Marek bekommt sogar eine eigene Geschichte, die in die Tiefen des 20. Jahrhunderts zurückreicht. Alle anderen bleiben der Gegenwart verhaftet. Nur Maja, die um zwei Generationen Jüngere, macht eine Entwicklung durch vom Kind zur jungen Erwachsenen. Auch sie ist eine Geschädigte, ihr hängt die eigene Familiengeschichte nach. Sie bleibt immerhin noch ihm Rahmen eines überschaubaren Zeitrahmens. Der alte Marek aber, der sterben wird, bekommt ein eigenes Kapitel, das ihn als Jugendlichen im Zweiten Weltkrieg zeigt, der als Zwangsarbeiter aus dem Osten missbraucht wird. Also gut, dieser Abschnitt, in dem wir hautnah dabei sind, wenn Marek deportiert wird und seinen Frondienst ableistet, gehört zu den schwächeren Teilen des Buches. Zu sehr sieht man hier, dass sich die Autorin ihr Wissen angelesen hat, dass sie eine Pflicht abstottert, um den armen Marek in den Glanz der Unschuld zu stellen, wo er sich gut sichtbar abhebt von den ehrenwerten Kleinbürgern, die das Sagen haben. Man muss sich nur ansehen, wie die sich das Maul zerreißen, wenn einer ausschert wie der Bruder von Majas bester Freundin, der am Sonntagmorgen, wenn die anderen zur Kirche gehen, erst heimkommt. Dann weiß jeder Leser, auf welcher Seite er zu stehen hat. Marek verkörpert in seiner Bescheidenheit und seiner stillen Liebe zu den kleinen Dingen die moralische Überlegenheit. Auf ihn kommt es an im Buch, auch wenn es im Dorf niemanden auf ihn ankommt. Bei ihm laufen die Geschichten zusammen, die über das Dorf verstreut sind. Mit diesem Erzähltrick, der einen Außenseiter zur Schlüsselgestalt umdeutet, gelingt es Schutti, Wertungen neu zu setzen. Sie verkehrt die Gesetzmäßigkeiten, die sich eingeschlichen haben, kurzerhand ins Gegenteil. Das schafft sie deshalb so gut, weil auch die eigentliche Hauptfigur, Maja, als Kind einen Blick auf ihre kleine Welt wirft, der jenen der Erwachsenen korrigiert. Sie hat sich nicht abgefunden mit der Sturheit der Großen, die alles, was fremd ist, der Verdammnis überantwortet. Maja schert auch später aus, weil sie ihren eigenen Kopf behalten will und ihn nicht mit den Kleinlichkeiten der Dörfler füllen mag. Sie weiß, dass sie nur eine Chance hat um unbeschadet durch ihr Leben zu kommen, sie muss den Aufbruch in die Stadt wagen, wo sie im Schutz der Anonymität ungehindert zu ihrem Ich stehen darf. Bei Marek laufen die Fäden zusammen. Er ist der Schutzengel, der über der Kindheit Majas thront. Untergründig treffen sich die Biografien der beiden ja. Majas Mutter stammt aus Weißrussland. Als die Mutter stirbt, bringt der Vater das Mädchen zu einer Tante tief in der österreichischen Provinz. Die verlorene Sprache und die Babuschka _ "es heißt nicht Bauschka, sondern Matrjoschka" - also gut: die verlorene Sprache und die Matrjoschka bilden das Glücksreservoir der Kindheit. Bei Marek, dem Mann aus dem Osten, ist dieser verlorene Tonfall zu hören. So bilden die beiden eine verschworene Gemeinschaft gegen die Dorfwelt. Dass bei Maja im Lauf der Jahre eine Entfremdung das Verhältnis stört, ist dem ganz gewöhnlichen Erwachsenwerden geschuldet. Erich holt sie raus aus der Enge, später stellt sich heraus, dass er der Sohn von Marek ist. Dass seine Mutter, die zwei vaterlose Kinder großzog, im Dorf als Geächtete ausgesondert wurde, wundert in diesem Klima der Borniertheit nicht. Marek, der Herzerwärmer, Marek, der verschwiegene Vater, er gibt den Störfaktor ab. Mit ihm kommt die Unruhe aufs Land, er deckt, so tief kann er sich gar nicht verkriechen in die Unsichtbarkeit, die Verlogenheiten auf. Das ist alles wie beiläufig geschildert, Aufgeregtheiten aller Art meidet Schutti unbedingt. Maja gehört der Minderheit der Stillen und Unaufgeregten an, in deren Inneren es aber unentwegt brodelt und kocht. Sie steht unter Druck, ohne dass jemand anderem etwas auffallen würde. Sie wird nicht fertig mit ihrer unaufgeräumten Vergangenheit, es gibt auch niemanden, der ihr Auskunft geben würde. Das Stillschweigen ist über die Gesellschaft verhängt, also bedarf es einer starken Frau, um Ordnung zu schaffen. Die Vorgeschichte ist notwendig, um zu verstehen, wie Maja in einem großen Finale sich auf eigene Faust mit ihrer kleinen Tochter aufmacht, das Fürchten zu verlernen. Sie kommt in ein unwirtliches Weißrussland, um etwas über ihre eigene Geschichte, die Herkunft der Mutter und der Großeltern, in Erfahrung zu bringen. Nicht, dass das Unterfangen von Erfolg gekrönt wäre, wichtiger ist zu sehen, wie sich eine von allen Bevormundungen und Einschränkungen befreit, sich von niemandem etwas sagen lässt und ihr eigenes Ding macht. So ist die Erzählung als die Jahrzehnte währende Geschichte einer Emanzipation zu lesen. Alle Stationen in diesem Leben sind die Voraussetzung dafür, dieses sperrige, widerborstige Ich auszubilden. Schutti schreibt ein Plädoyer für das Widerstehen auf derart unaufdringliche Weise, wie es der Haltung dieser jungen Frau entspricht. Gegen ein Österreich der Duckmäuser stellt sie eine einsame Wölfin, der es nie einfallen würde, mit den anderen Wölfen zu heulen. Diese Maja brüllt für sich allein. An der Literatur von Carolina Schutti werden wir noch unsere Freude haben. ---- Quelle: Literatur und Kritik; Autor: Alexander Kluy; Herkünfte und Vergangenheiten Carolina Schutti: "Einmal muss ich über weiches Gras gelaufen sein" Dies ist ein zartes Buch; ein Buch, das aufhorchen lässt, obwohl es darin zumeist still hergeht und zerbrechlich. Die Innsbruckerin Carolina Schutti, vor nicht allzu langen Jahren dortselbst promoviert worden mit einer Untersuchung über die biblischen Spuren im Prosahauptwerk Elias Canettis, erzählt in "Einmal muss ich über weiches Gras gelaufen sein" zwar von einem Zeitraum von rund zwanzig Jahren, dies allerdings weder chronologisch, noch in einer trocken dokumentarischen Manier. Vielmehr ist ihre lyrische Prosa ausgreifend und dabei parataktisch einfach; die Darstellungsweise entspricht eher der Überlagerung von traumartigen Erinnerungssequenzen, ja recht eigentlich dem Prinzip unordentlicher subjektiver Memorialkunst, bei der ja ebenfalls die faktischen Ränder verblassen, schwächer und schließlich fahl werden, ausbrechen, das Große klein wird und kleinste Details große Aufmerksamkeit erfahren. Wie schon in ihrem ebenfalls im Otto Müller Verlag 2010 erschienenen schmalen Erstling "Wer getragen wird, braucht keine Schuhe" ist auch ihr zweites Buch kein räumlich ausgreifendes Opus, eher ein Opusculum. Und dabei doch welt- und sehnsuchtshaltiger als so manche umfangreiche Epopöe. Im Mittelpunkt steht Maja, der wir anfangs, im Kindesalter, als Waise begegnen. Die Mutter, aus Weißrussland gebürtig, ist gestorben, der ihr unbekannte Vater hat sie aus dem Kinderheim abgeholt, zur Tante gebracht, die in einem abgelegenen Dorf in einem kleinen Häuschen lebt. Die Zivilisation ist weit entfernt, die Zeit ist nicht näher einzugrenzen. Die familiären Wurzeln reichen nach Weißrussland, in die Zeit des Zweiten Weltkriegs, in dem Verwandte deportiert und ermordet wurden. Maja wächst bei der Tante auf, deren Herrschaft ist eine energische, jedoch keineswegs kalt oder herzlos oder abweisend. Maja wird älter, gewinnt Fini, die zwischenzeitlich schwer erkrankt, zur besten Freundin, mit der sie Ausflüge in die nächstgelegene Stadt unternimmt, die teils abenteuerlich, zumindest für die zurückhaltende, fast scheue Maja, ausfallen. In Marek hat sie seit längerem einen väterlichen Freund gewonnen, doch mit zunehmender Teenagerzeit wird der Kontakt zu dem Polen, der im Krieg, als Fastnochkind, als Zwangsarbeiter verschleppt wurde, nach Kriegsende ins Dorf kam und sich bis zum Besitz eines kleinen Häuschens hocharbeitete, löchriger, seltener. Dafür verliebt sie sich in Finis älteren Bruder Erich (von dem sich viel später, kurz vor dem Tode Mareks, herausstellt, dass dieser sein Vater ist), führt mit ihm eine zunehmend fragile, zunehmend ungleiche Beziehung, die sie schließlich beendet und mit dessen bestem, jedoch völlig gegensätzlichem bestem Freund Bert zusammenlebt. Am Ende sieht man sie, inzwischen Mutter einer kleinen Tochter, inzwischen getrennt von Bert, auf der umständlichen Bahnfahrt zu den Familienursprüngen, im Osten Europas unterwegs, das Dorf erreichend, das Haus schließlich, das sie von der ihr einzig gebliebenen Fotografie ihrer Mutter kennt. Es verwundert nicht, dass die 1976 geborene Carolina Schutti des Öfteren mit musikalischer Begleitung aus ihrem Buch liest. Denn ihre Sprache ist melodiös und biegsam, bedient sich dabei allerdings einfacher Mittel, die reichlich unverkrampft eingesetzt werden: Verzögerungen und nur sachte Beschleunigungen, Verkürzungen, unausgesprochen Weiterschwingendes, fluktuierende Andeutungen: "Finis Mutter klopft jedes Mal, bevor sie das Zimmer betritt. Ihre Schritte kündigen ihr Kommen an, das Klappern der Holzpantoffeln unten im Flur, im rhythmischen Wechsel auf den Stufen. Die Mutter streicht Fini übers Haar, spricht leise mit ihr, weil Maja dabeisteht und nichts davon hören soll. Die Glashaut, die sich in solchen Momenten um die beiden spannt, die Glashaut, die Maja von Fini trennt. Wie es sich anfühlen muss, den Mund der Mutter so nah am Ohr, ihren Atem, sodass sich die Härchen aufstellen, die Härchen am Ohr und im Nacken und an den Armen. Fini rollt mit den Augen, wenn sich ihre Blicke treffen, und drückt die Hand der Mutter, bevor sie sie von ihren Schultern schiebt." Das Equilibrium von Nähe und Leere, das Austarieren von Sehnsucht und ersehnter Wärme steht im Zentrum dieser bemerkenswerten Prosaveröffentlichung, bei der nur wenige Episoden im epiphanischen Fluss der Sprache dramaturgisch überflüssig anmuten, bei der nur relativ selten Beobachtungen in Kitsch erstarren, dies dann aber umso auffälliger ins Auge sticht, da hätte ein noch rigideres Lektorat durchaus eingreifen können. Es ist eine Charakterstudie über ein sich entwickelndes und späterhin emotional fraglos fragiles Leben vor fragilem, nahezu schattiertem Hintergrund, die Suche nach Herkünften, Vergangenheiten und der Zukunft, zukünftigen Konstellationen, die sich im Heute daraus ergeben. Und es ist die Suche nach der adäquaten Sprache für Verlorenes. Man kann gespannt sein, ob Carolina Schutti beim nächsten Buch den bisherigen stilistisch-thematischen Weg weiterverfolgen mag oder ob sie zu gänzlich Neuem, Anderen aufzubrechen gewillt ist. ---- Quelle: Pool Feuilleton; Erst wenn man sich auf die Suche nach seiner verdeckten Herkunft gemacht hat, kann man mit dem Leben beginnen. In Carolina Schuttis Roman geht die junge Frau Maja ihren eigenen Herkunftsspuren nach. Sie ist offensichtlich einst durch widrige historische Umstände in einem kleinen Dorf "gelandet", die erste Bezugsperson ist eine sogenannte Tante, die sie in die wichtigsten Handgriffe des einfachen Lebens einführt. Aus dieser Zeit früher Ur-Erinnerung stammen auch die Kapitelüberschriften, die das Leben der Ich-Erzählerin strukturieren: "Babuschka / Daunenhöhle / Warme Himbeeren / Hundert Bürstenstriche / Saure Milch / Zimmer drei / Frau Holle". Dabei gehen Gerüche, Wortfetzen, Spielanleitungen und Ausblicke auf das Gras in einem Innenhof in einander über. Maja zerlegt ihre Babuschka und lässt die säuberlich aufgestellten Teile ins Freie Blicken, während sie selbst auf den Rücken dieser Figuren voller Sehnsucht in verschwimmende Muster starrt. Die Tante hat ein Spiel mit dem Geschirr in den Haushalt eingeführt, so muss man immer die Teller von unten nehmen, damit alle gleichmäßig im Umlauf sind und gleichmäßig abgenutzt werden. Und dann ist da noch die Stimme von Marek, einem Mann, der offensichtlich vom letzten Krieg als Gefangener übrig geblieben ist und allein mit seinen Sätzen ein fernes Land voller Leidenschaft und Lebenshunger darstellen kann. Maja wird erwachsen und zieht in die Stadt, nicht ohne in Schlieren voller Neugierde die neue Umgebung zu erkunden. In jugendlicher Leichtigkeit fährt sie etwa mit zwei Jungs über das Land, das Trio schläft in einem Dreibettzimmer, die Verhältnisse sind offen und federleicht. Im Schlusskapitel sucht Maja zusammen mit ihrer kleinen Tochter Anja die Wurzeln ihrer Herkunft, Anja nuckelt still vor sich hin, während Maja in abenteuerlichen Zügen über das Land fährt, um "es" zu suchen. "Denk nicht, dass es Unsinn ist, tagelang im Zug zu sitzen, nur um ein Haus zu suchen, das vielleicht gar nicht mehr steht. Ich muss alles sehen, alles, was meine Mutter gesehen hat, ich möchte spüren, wie lang diese Reise ist, ich möchte hören, wie sich der Klangteppich im Wagen verändert, während wir durch die einzelnen Länder fahren. Anja schläft neben mir, ich halte ihre Hand." (136) Carolina Schutti vermittelt eine große Sehnsucht, nach etwas Verschollenem und Verklungenem, das vielleicht mit geduldigem Abtasten von Bildern und Erinnerungen wieder zum Leben erweckt werden kann. In jedem von uns steckt eine Erinnerung, als ob wir über weiches Gras gelaufen wären. Carolina Schutti erweckt dieses Gefühl und entlässt uns in eine ferne und dennoch greifbare Gegend voller Glück. Helmuth Schönauer
Rezension
Personen: Schutti, Carolina
Schutti, Carolina:
Einmal muss ich über weiches Gras gelaufen sein / Carolina Schutti. - Salzburg : O. Müller, 2012. - 144 S.
ISBN 978-3-7013-1193-4
Belletristik allgemein - Signatur: D0 Schu - Buch