Quelle: LHW.Lesen.Hören.Wissen (http://www.provinz.bz.it/kulturabteilung/bibliotheken/320.asp) Autor: Markus Fritz; Eva Gruber wird von der Polizei in die Psychiatrie nach Steinhof in Wien gebracht. Sie prahlt damit, eine Kindergartenklasse ermordet zu haben, doch Vorsicht ist geboten, man kann der Person nicht ganz trauen. Schließlich wird sie von der Polizei nicht ins Gefängnis, sondern in die Psychiatrie gebracht. Was soll man ihr glauben? Dem leitenden Psychiater Dr. Korb erzählt sie, dass sowohl Vater als auch Mutter tot seien. Später wird sie dann freimütig gestehen, am liebsten würde sie den verhassten Vater umbringen. Evas jüngerer Bruder Bernhard ist ebenfalls in der Klinik. Er ist bis zum Skelett abgemagert. Eva erzählt dem Psychiater von ihrer Kindheit in einem erzkatholischen Dorf in Kärnten und vom tyrannischen Pfarrer, der die Religion als Mittel zur Unterdrückung missbraucht. Die Autorin zeigt auch schonungslos auf, welch verhängnisvolle Rolle die katholische Kirche in Kärnten in den 70er und 80er Jahren spielte. Was ist in dieser Familie passiert? Eva und ihr Bruder sind Opfer des gewalttägigen alkoholkranken Vaters und einer überforderten Mutter. Eva ist hochintelligent, sie hat eine blühende Phantasie und sie ist eine Meisterin der Intrige und der Manipulation. Ihre Erinnerungen sind voller Sarkasmus, schonungslos offenbart sie die Lebenslügen der Eltern und die Enge der Provinz. Die Rückblenden sind kunstvoll konstruierte Kurzgeschichten. Es stellt sich dann heraus, dass die Behauptung, eine Kindergartenklasse ermordet zu haben bzw. ihre Mordphantasien nur ein Trick waren, um in die Anstalt zu gelangen, um den magersüchtigen Bruder herauszuholen und zu retten. Die Therapien würden dem Bruder nicht helfen, Heilung könne nur die Rache am Vater bringen. Bernhard will allerdings von Evas Racheplänen nichts wissen. Die Geschwister sind sehr verschieden: er bleibt stumm und wehrlos, Eva hingegen reagiert und schlägt zurück. Ein ungewöhnlicher Roman mit einer ungewöhnlichen Hauptfigur, bei der man nicht weiß, was Wahrheit und was Fiktion ist. Ein unterhaltsamer und berührender Debütroman über zwei ungleiche Geschwister, der vor allem wegen seiner direkten und humorvollen Sprache überzeugt. Eher für größere Bibliotheken geeignet. ---- Quelle: Literatur und Kritik; Autor: Helmut Gollner; Wahnsinn! Zu Angela Lehners Debüt »Vater unser« Nicht erst bei Angela Lehner fragt man sich, woher die (auffällig) vielen jungen Autorinnen der letzten Jahre so viel Welt und solche Schreibe nehmen. Lehner ist Jahrgang 1987, geboren in Klagenfurt, lebt in Berlin. Eva Gruber, die junge Ich-Erzählerin des Romans, ist gemütsgestört, erhebt sich in verrückte Höhen und landet im Dreck. Das ist eine Tragödie, egal, ob Eva den Leser (und ihren Psychiater) anlügt oder ob sie die Wahrheit sagt. Die Tragödie des Erzählten besteht unabhängig von der Wahrheits- oder gar der Schuldfrage. Auch Wahn dient dem Überleben. Und kann scheitern. Eva ist eine unwiderstehliche Figur, das Buch bezieht seine irritierende Wirkung, ja seine Qualität auch daraus, dass man ihm nicht über den Weg trauen kann; man verlässt es, ohne zu gesichertem Wissen gekommen zu sein. Das darf man literarisch begrüßen: nichts ist erledigt. Eva wird ins Irrenhaus eingeliefert, weil sie behauptet, mit einer Pistole eine Kindergartenklasse erschossen zu haben. Das ist eine Lüge. Sie wollte zu ihrem Bruder Bernhard, der wegen schwerer Magersucht in derselben Anstalt (am Steinhof, Wien) sitzt, um ihn zu »retten«. Eva ist intelligent, subversiv und zum Fürchten. Mühelos kippt sie den Oberpsychiater Dr. Korb aus seiner fachlichen und gesellschaftlichen Autorität (den Leser amüsierts): Sie kommt nackt zur Sitzung, gibt ihm Einrichtungstipps für seine Ordination, redet übers Ficken, spielt die konstruktive Patientin, die ihrem Psychiater alles über sich erzählt (Dr. Korb notiert brav), und schießt erst zum Schluss ihren Torpedo ab: »Und unter diesen Gesichtspunkten kann ich alles nachvollziehen, was Hitler jemals gesagt hat.« Die anderen Irren mögen schreien oder weinen, sagt sie, tun das aber wenigstens mit echten Gefühlen. »Mein Gott, Korb, fühlen Sie überhaupt noch was? [] Sie sind doch hier der Abnormale!« Eva ist dominant, manipulativ und gewalttätig. (»Meine Ohrfeige erschreckte die Mutter. [] Noch einmal hob ich die Hand und schleuderte ihr Gesicht zur Seite«, so erzählt es Eva zumindest.) Sie schleicht sich an Bernhard ran; der flieht entsetzt. Allmählich aber hat Eva kleine Erfolge in der Rückgewinnung ihres Bruders: ein erstes Lächeln am Ende einer Familiensitzung. »Dann steht er auf und geht. Langsam, als hoffte er, ich würde ihm nachlaufen und die Faust in seinem Rücken versenken.« Schließlich eröffnet sie ihm ihren Plan: aus der Anstalt fliehen und den Vater umbringen; nur darin läge Rettung für ihn. Evas Erzählungen sind durchsetzt von Erinnerungen an Kindheit, Vater und Mutter. Vor allem das Vater-Bild, das offensichtlich entscheidende, irrlichtert in extremen Schwankungen: Ist er der Säufer, der seine Kinder regelmäßig vergewaltigt hat? Oder der sanfte Vater mit einer besonders liebevollen Beziehung zu seiner Tochter? War er es, der die Familie verlassen hat? Lebt er noch oder ist er schon tot? Schließlich entführt Eva Bernhard. Er müsse die Vergangenheit hinter sich lassen (durch den Vatermord). Bernhard wehrt sich nach Leibeskräften, den paar verbliebenen, also erfolglos. »Du kannst nicht dein ganzes Leben lang durch die Gegend leiden. [] Man kann ja nicht einfach dauernd nur sterben, bis man tot ist«, sagt sie ein lebensgefährlicher Road-Trip, mit »geborgtem« Auto, Richtung Kärntner Heimatdorf; ohne Geld; ein halbverhungerter Magersüchtiger und eine Verrückte, die sich immer despotischer als Mutter-Kokon um ihren Bruder legt, der immer öfter Embryo-Haltung einnimmt. Spuren von Liebe und Liebesbedürftigkeit. Die gemeingefährliche Eva ist natürlich auch ein aus dem Nest gefallenes Küken. Eine gewaltsame Reise ins absolute Nichts. Wovon soll Eva noch leben? Was bleibt ihr noch zu wähnen? Ein verrücktes Bewusstsein ist ein besonders reizvoller und ertragreicher Erzählboden, auf natürliche Weise kritik- und satirehaltig, der ver-rückte Blick bringt Realität und Konventionen aus dem Gleichgewicht. Dabei breitet Angela Lehner die Szenen mit gekonnter Selbstverständlichkeit aus, bettet sie wie unkonstruiert und mit aller Konkretheit in die Umstände, steht in jeder Szene mit allen ihren Sinnen: avancierte Erzählkunst. Evas Verhalten wird beobachtet und nicht diagnostiziert. Das macht ihr Auftreten noch bedrohlicher und hält die Geschichte am Brodeln.
Rezension
Personen: Lehner, Angela
Lehner, Angela:
Vater unser : Roman / Angela Lehner. - 1. Auflage. - Berlin : Hanser Berlin, 2019. - 283 Seiten
ISBN 978-3-446-26259-1
Belletristik allgemein - Signatur: D0 Leh - Buch