Quelle: Literatur und Kritik; Autor: Helmut Gollner; Nachdenken über Stefanie Sargnagel Literatur und Facebook Sie halten eine Literaturzeitschrift in Händen. Stefanie Sargnagels Wortmeldungen kommen aus der relativ literaturfernen Facebook-Szene; ihre ungebärdigen, subversiven, witzigen, schonungslosen, hässlichen, klugen, widersprüchlichen, bösartigen, berührenden, banalen Postings sind inzwischen in drei Bücher gebunden und brachten ihr die Einladung zum letzten Bachmann-Lesen und dort den Publikumspreis. Andererseits liegen ihre Bücher in der Buchhandelskette "Thalia" nicht in der Abteilung "Literatur", sondern in der Abteilung "Humor". Diese Zuordnung ist unbeholfen und ungenau. Aber viel besser, als die Frage zu stellen, ob Sargnagels Notizen Literatur sind, ist es, sie zu lesen, ohne die Frage zu stellen: dann liest, lacht, staunt, widerspricht oder langweilt es sich viel befreiter. Und der literaturumflorte Blick sieht nicht oder ungern, was die Niederungen an Frischluft ins Hochland wehen könnten; man darf sich auch außerhalb der Literatur umsehen, wenn man innerhalb der Literatur neue Kräfte sammeln will. Außerdem ist die Literatur viel beweglicher, als die Begriffe von Literatur es sind. - Ein gewaltiger Sprachstrom läuft digital in den sozialen Netzwerken neben den etablierten Sprachträgern Literatur, Philosophie, Wissenschaft, Journalistik her, der neben kulturzerstörerischen Nachteilen (Stichworte Hasspostings, Mobbing, Shitstorms) auch Qualitäten enthält, die Kulturvorteile bringen können: eine Spontaneität, die den Augenblick fest- und hochhält (zuungunsten des Ewigkeitsanspruchs von Wahrheit und Literarizität); eine Kommunikativität, die in den sozialen Netzwerken selbstverständlich ist, in Büchern und Zeitungen nicht; eine kulturelle Unbelastetheit, die innovative Impulse freisetzen kann; und ganz allgemein neue Mitteilungsstrukturen sowie ein Vokabular, das der Rezensent erst durch seine zwei Kinder, die noch in die Altersklasse Sargnagels gehören, entschlüsseln konnte (lol, Milf, twerken, Bong, Mäci, rofl, meme usw.) - Stefanie Sargnagel will gar nicht Schriftstellerin sein, muss zur Kenntnis nehmen, dass sie als solche inzwischen gehandelt wird (Bücher, Lesungen, Literaturpreise), hat zur Zeit deswegen kleinere Identitätsprobleme und wird sich von diesen mit der Durchschlagskraft und Unausweichlichkeit ihres Temperaments befreien. Egal, ob Sargnagels Texte Literatur sind (weg jetzt mit der Frage!), sie sind schon habituell jedenfalls ein Statement zur Literatur. Sargnagel vermeidet lustvoll alles Elitäre, in Form und Inhalt: den hohen Ton, die hohe Bedeutsamkeit, die Haltbarkeit des Gesagten, jeden Erzstandpunkt; nirgends wird Bedeutung getürmt, Rückgrat gesteift, Podest bestiegen; sie schreibt Gedichte, denen provokant alles fehlt, was Gedichte üblicherweise auszeichnet, und Witze, die keine Pointe haben ("Deine Tante hat einen Kreuzbandriss"). Solche Provokationen des traditionellen Literaturverständnisses haben gute österreichische Tradition (Wiener Gruppe, Jandl, Wolfgang Bauer, Jelinek), bei Sargnagel allerdings ganz ohne Programmatik: gelassene Literatursubversion mittels Aussageverweigerung, Asozialität, sprachlichem Übermut, intimer, nirgends fiktionalisierter Selbstdokumentation ("Mein Privatleben geht alle was an"), aber mit Witz ("Kann es sein, dass ich seit drei Tagen nicht mehr scheißen war? Irgendwem was aufgefallen diesbezüglich?"). Sargnagel ist undogmatisch, ihrer Antiliteratur unterläuft bisweilen auch Literatur, wenigstens in der Gattung des Aphorismus und in ihren lakonischen Porträts, sie schaut gern Leute. Sie fühlt sich wohl als Bildungsbürgerschreck und Schöngeisterschreck, verstört mit ihrer Hasslust und berührt mit ihren Sehnsüchten, Depressionen und Regressionen. Sargnagels Notizen enthalten als Schreibprinzip fast durchgehend subversive Ironie (inklusive Selbstironie) und eine latente Entwertung von Aussagen überhaupt, einmal postet sie: "Ich distanziere mich übrigens von allem, was ich schreibe, sage, denke." Den sandigen Grund jeder Felsenüberzeugung, den Anteil an Dummheit, den Intelligenz hat, sowie den Anteil an Unwahrheit, den die Sprache ins Urteil einbringt, scheint Sargnagel zu kennen oder zu fühlen. Auf den Bahnen der Logik und mit der Forderung nach Stringenz ist sie nicht zu stellen: "Bei Interviews wurde mir gesagt, ich würde mir sehr viel widersprechen, aber ich finde es sehr intelligent, sich zu widersprechen, also dumm." Also klug. Ihre Haltung zu Literatur und Kultur macht sie auch ausdrücklich: Sie habe nicht genug Sitzfleisch für den Autorinnenberuf, ihr tatsächlich reichliches Sitzfleisch brauche sie zum Twerken (ein Arschwackeltanz); sie zählt ihre 10 Lieblingsbücher auf: 10 x Thomas Brezina. Sargnagel studiert auch ein bisschen an der Akademie der bildenden Künste, ist inzwischen eine gesuchte Comic-Zeichnerin, kennt also Kunstausstellungen gut: "Nach kurzer Zeit ist man so übersättigt von Kreativität, dass man am liebsten ins nächste Beisl rennen will, um mit besoffenen Maurern Andreas Gabalier zu hören." Sargnagel bedankt sich beim Ministerium für ein Stipendium: "Liebes Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur! Für das Stipendiumsgeld habe ich mir die Brüste ganz groß operieren lassen. Jetzt brauch ich nicht mehr zu schreiben, um geliebt zu werden. Danke, Eure S." In ihrem Band In Zukunft sind wir alle tot wirft Sargnagel sich zu einem kleinen selbstreflexiven Vorwort auf, obwohl solcher Wesensernst ihre Sache sonst nicht ist: "[] dokumentierte ich mein Herumstrampeln laufend auf Facebook und anderen sozialen Netzwerken, schrieb Gedichte, Gedanken und Alltagsbeobachtungen auf, geprägt durch eine pubertäre Idee von der Wahrheit im Abgrund, einer widersprüchlichen Sehnsucht nach gleichzeitig Normalität und Subversion, einem Gemisch aus Größenwahn und Selbsterniedrigung, depressiver Verstimmtheit und derealisierter Amüsiertheit []". Ihre täglichen, stündlichen Statusmeldungen laufen auf zu einer veritablen Lebensform und ergeben ein personumfassendes Schreibunternehmen, das dem Leser immerhin das Spektakel einer Identität vorführt, das insgesamt auch dort lohnt, wo es nicht zur Pointe geschürzt ist. In diesem Sinn lohnt auch die gelegentliche Langeweile, die sich bei der Kettenlektüre ihrer drei Bücher einstellt. * Sargnagel ist aber nicht nur literarisch bedenkenswert, sondern auch soziologisch: als ein impulsives Kind ihrer Zeit und ihrer Generation (sie sieht manchen literarischen Figuren in den Romanen der etwa gleichaltrigen Autorinnen in Österreich ähnlich), einer Generation, die den Älteren oft unbekannt oder unverständlich ist. Sargnagel vertritt die rebellisch postideologische Seite ihrer Generation. Sie ist affektiv links, attackiert FPÖ und Identitäre, auf eine spontanparteiische, krawallpolitische Art, die ideologisch ziemlich undefiniert bleibt - und Raum lässt auch für konservative Regressionen in die Idyllik ihrer verlorenen Kindheit, die durchaus bürgerliche Züge hat. Gut so: Sargnagel bleibt schwer zu vereinnahmen, bleibt emotional, also relativ vielseitig und unabhängig. Unideologisch rebellisch: das ergibt die aggressive bis depressive Ortlosigkeit, die ihrer Generation bisweilen nachgesagt wird (und immer wieder alkohol- und sexaffin macht). "Ich wäre so gern radikal", postet Sargnagel, "aber ich habe keine Ansichten." "Ich bin gar nicht so links, ich mag nur Polemik und Krawall." - Ihre Generation und damit die eigene Verfassung befundet sie ziemlich illusionslos: "Wir sind die Generation, die mit 30 noch drüber redet, was man mal machen will, wenn man groß ist." Und herausfordernder: "WIR SIND MÜDE WAS SEID IHR?" Ähnlich verhält es sich mit Sargnagels Feminismus: auch er aggressiv statt argumentativ, "Kastrationsfeminismus" statt "Kuchenfeminismus". Sargnagel liebt und schreibt Battleraps, die den Mann sexistisch erniedrigen und vernichten, mit einer Hasslust, die wohl nichts mehr mit dem alten Feminismus zu tun hat, zumal sie in ihren Wortmeldungen den Eindruck einer starken Frau macht, die gewiss nicht an Emanzipationsdefiziten leidet und sich Sex- und Liebesverhalten gewiss nicht feministisch (ideologisch) diktieren lässt. Sie ist so feministisch, wie sie politisch ist: krawallpolitisch und kastrationsfeministisch, also unideologisch aggressiv. (Übrigens ist die Kastrationsfeministin gleichwohl sexfreudig und liebesbedürftig.) "Ich mag das Leben im Internet lieber als das unten auf der Erde": die Facebook-Generation, prototypisch. Leben im Internet: dort findet Selbstverwirklichung, Kommunikation, Hassen und Lieben statt, das Leben, alles in verwörtlichter Form, die - wie in der Literatur - das reale Ich noch einmal verstärkt, vergrößert, aufwertet, zuspitzt, in Form und in Blähung/Blüte bringt. "Ohne Smartphone bin ich nur eine einsame, dicke Zeichenlehrerin namens Brunhilde, Spitzname Bruni." Das Internetverhalten unterscheidet sich vom Verhalten "unten auf der Erde": Ein großer Teil der zivilen und sozialen Regeln unserer mündlichen Kommunikation scheint aufgehoben. Daran hat das Angebot und die Möglichkeit der digitalen Anonymität seinen Teil; die in der Anonymität enthemmte Rede fließt dann auch in die nicht anonyme Äußerung ein, wir bleiben ja im selben großen Kommunikationsstrom; und weiter in die "reale" Rede, das wissen wir (mindestens die Lehrer) schon längst: Stefanie Sargnagel und die Facebook-Community verwenden als Erniedrigungsanrede z.B. gerne "du Opfer". Das hat als Beschimpfung längst Eingang gefunden in die Sprache der realen Schulkinder. Ein Begriff aus dem Bereich der Empathie wird nur mehr in seinem abwertenden Gehalt verwendet. - Es gibt auch andere Gründe, warum es sich beim Posten leichter hassen lässt als im Angesicht des Gesprächspartners (seine physische Nichtanwesenheit, der Schutz in der Masse). Und es wäre zu untersuchen, warum die Befreiung/Enthemmung der Rede, jedenfalls der Massenrede, das Hassen viel mehr fördert als das Lieben. - Vor allem aber liegt es im Interesse des Unternehmers, den Redestrom zu verstärken, auch durch Enthemmung: Facebook, das vor 12 Jahren noch ein reines Studentennetzwerk war, hat heute weltweit 1,7 Milliarden Nutzer, das ist ein Viertel der Weltbevölkerung. Der Gewinn des Unternehmens im 2. Quartal 2016 betrug 2,1 Milliarden Dollar, das ist eine Verdreifachung gegenüber 2015. 84% seines Umsatzes bezieht Facebook aus der Werbung auf den Mobilgeräten. Umsatz- und Gewinnsteigerungen gehen vor allem auf die zielgruppengerichtete Platzierung der Anzeigen zurück, für die Facebook den Werbekunden Daten seiner Nutzer zur Verfügung stellt. Also: Je mehr Nutzer und je länger ihre Online-Verweildauer, desto mehr Einnahmen aus der Werbung. Dafür entwickelt Facebook immer neue Service-Dienste und schickt Riesendrohnen in den Äther, um immer mehr Menschen, auch in entlegenen Gebieten, Zugang zum Internet zu verschaffen. (Alle Daten: Kurier, 29. 7. 2016.) Die Aufforderung der sozialen Netzwerke an ihre User, zu allem und jedem Stellung zu nehmen sowie ihren Kommunikationskreis ständig zu erweitern, entspringt ihren Geschäftsinteressen. - Die Rede schwillt unkontrolliert ins Maßlose, zu viele soziale und ethische Kontrollen beeinträchtigen den Profit; das gilt, auch wenn Facebook manche Postings von Sargnagel sperrt und die Politik über Gesetze gegen Hassbotschaften nachdenkt. Die sozialen Netzwerke sind vergleichsweise entsozialisierte Zonen, insofern sie Massensozialisierung fördern unter Vernachlässigung sozialer Verhaltensstandards. Trotzdem, die digitale Enthemmung der Rede kann als ihre Befreiung auch Vorteile haben. Sargnagel ist neidisch: "Wenn ich heute noch einen makellosen Oberschenkel sehen muss, töte ich ein kleines Kätzchen. Bussi." Ihre Vorstellung ist verständlich und grauslich. Ärgern Sie sich über die Grausamkeit der Vorstellung oder erfreut Sie eher deren Ehrlichkeit und Witz? Das ist ganz in der Ferne natürlich wieder die verbannte Frage nach Sargnagels literarischen Qualitäten. Mögliche Vorteile also der digital befreiten Rede: ihre Ehrlichkeit und Schonungslosigkeit, die verbale Stärkung des Ichs, die Nutzung eines sprachlichen Exerzierfelds und: die Literarisierung der Rede.
Rezension
Personen: Sargnagel, Stefanie
Sargnagel, Stefanie:
Binge living / Stefanie Sargnagel. - Wien : Redelsteiner Dahimène Ed., 2013. - 193 S. : Ill.
ISBN 978-3-9503359-6-5
Belletristik allgemein - Signatur: D0 Sar - Buch