Roth, Gerhard
Das Alphabet der Zeit
Buch

Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html); Autor: Reinhard Ehgartner; Erkundungen in der Welt der Erinnerungen. (BB) "Das Alphabet der Zeit" ist Gerhard Roths Rückkehr in das lange vergessene Land seiner Kindheit. "Vier Jahrzehnte hatte ich meine Kindheit vergessen. [...] Ich war schon über fünfzig Jahre alt, als die Erinnerung zurückkehrte, fast unwirklich und stückweise, als eine Ansammlung von Partikeln, Fragmenten, Kopffotografien und automatenhaften Kurzfilmen, als Stimmen und Déjà-vus." (S. 704f) Die ersten Erinnerungen dieses Lebens setzen ein in einem Augenblick größter Gefährdung. Die Mutter versucht im Jänner 1945 mit dem Zweieinhalbjährigen mit dem Zug von Graz aus zu dem in Süddeutschland stationierten Vater durchzukommen. Der Zug wird bombardiert, aber das Unternehmen gelingt. Die Gefährdungen dieses Lebens werden von diesem Moment an nicht mehr enden, wie ein roter Faden ziehen sich Berichte von Unfällen, Krankheiten und Todesbegegnungen durch Kindheit und Jugend, und die bedrückende Außenseiterrolle in der Gymnasialzeit nährt im jugendlichen Gerhard Roth eine tiefe Todessehnsucht. Glücklicherweise tauchen auf der anderen Seite immer wieder Helfergestalten und Gegenfiguren auf, die Zuwendung schenken und neue Welten erschließen. Die Welt der Bücher zum Beispiel, die in Dr. Doolittle, Robinson oder Winnetou mit Figuren vertraut macht, die das eigene Leben reflektieren und gestalten helfen. Intensiv und geradezu magisch entwickelt sich eine tiefe Beziehung zu den Großeltern, die in ihrer Intensität das Verhältnis zu den Eltern überstrahlt. Irritierend und mächtig das sexuelle Erwachen, befreiend gegen Ende das Heraustreten aus den Unterdrückungsmechanismen der Gymnasialzeit. Gerhard Roth vermag es, in seiner Kindheitsgeschichte schlüssig und unprätentiös die politische und soziale Geschichte des 20. Jahrhunderts zu spiegeln. Dieses Aufeinandertreffen von Individuum und Gesellschaft wird lebendig, das Einmalige und das Zeittypische gehen verschlungen Hand in Hand. Politisches Mitläufertum und Formen von Opposition werden aus kindlicher Beobachtung und anhand späterer Bewusstseinsprozesse dargelegt. Selbst Fotos von Erhängten mit lachenden Menschen im Vordergrund sind Ausgangspunkt für Versuche des Verstehens und nicht Gegenstand der Anklage. Formen des Ahnens und der Vorausahnung halten auch im Jugendlichen noch die Brücke zur magischen Welt der Kindheit, gegenüber religiösen oder kirchlichen Ausdruckformen bleibt aber ein tiefes Befremden. - Literarisch dicht, sinnlich, voller Bilder, Töne und Gerüche öffnet uns Roth eine Grazer-Vorstadt-Kinderwelt. Ein literarisches und ein zeithistorisches Dokument gleichermaßen. ---- Quelle: Literatur und Kritik; Autor: Alexander Kluy; Selbstgespräch mit einem Fremden Gerhard Roths "Das Alphabet der Zeit" Vaterbücher, Mütterbücher waren vor einem Vierteljahrhundert literarisch en vogue. Es wurde abgerechnet mit den Eltern. Christoph Meckel schilderte im eindrucksvoll bitteren Band Suchbild das Leben seines Vaters, des in den 1930ern erfolgreichen, nach 1945 weitgehend erfolglosen Schriftstellers Eberhard Meckel. Die Bücher dieses Genres sind heute vergessen, Monika Marons Flugasche etwa oder Katrin Strucks Die Mutter. Vaterbücher, Mütterbücher sind aber immer auch Romane des Selbst gewesen, Rapporte des Aufwachsens, der Eigenerforschung und der Emanzipation, Vermessungen der Lebenswelt, in der man aufwuchs, die prägte, brach und im günstigen Falle überwunden und hinter sich gelassen wurde, was bei Josef Winkler und Franz Innerhofer eindringlich nachzulesen ist. Ein steter Impetus des eigenen Schreibens ist seit dem Zeitalter der Empfindsamkeit, seit Jung-Stillings Selbstlebensbeschreibung (1777-1779) und Ulrich Bräkers Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheur des Armen Mannes im Tockenburg (1792), die Selbsterforschung gewesen, zuvörderst als Autobiographie. Was aber, wenn die eigene Erinnerung sich sperrt? Wenn die ersten zwölf Lebensjahre wie ausgelöscht erscheinen, ein undurchdringlicher Nebel sind? Wird das Unternehmen autobiographischer Rekonstruktion dann eine sich gegen analytische Erinnerung sperrende Melange aus Dichtung und Wahrheit? Vier Jahrzehnte habe er seine Kindheit vergessen, schreibt Gerhard Roth am Ende seines jüngsten, umfangreichen Buches Das Alphabet der Zeit. "Ich wunderte mich manchmal darüber, dass Tolstoi oder Marcel Proust, Hemingway oder Mark Twain Geschichten über ihre Kindheit hatten schreiben können, denn in meinem Kopf waren die zwölf ersten Jahre ausgelöscht gewesen." Doch bedauert habe er, der bei seiner literarischen Aufzählung sinnigerweise die minuziösen Erinnerungsbände Elias Canettis unerwähnt lässt, dies nie. Erst seit Mitte der 1990er Jahre, so der in Graz aufgewachsene Roth, der seit zwei Jahrzehnten in Wien und der Südsteiermark lebt, erst im Zuge von Gesprächen mit seinem Enkel entwickelte sich sein Gedächtnis von neuem, setzten Erinnerungen ein. Doch das Gespräch, das Schreiben über sich selbst, mutet dem Schriftsteller noch heute an als ein Gespräch über einen Fremden. Wie ein Film in einem Kinosaal, der auf eine Leinwand projiziert wird, der ab und an schwarze Flecken aufweist. Und zu reißen droht. Eben diese kinematographische Gedächtnismetapher begegnet im ersten Zehntel des Buches fast zu oft und wird später immer wieder eingestreut vom Kinogeher Gerhard Roth. Das Alphabet des eigenen Lebens buchstabiert er durch, setzt es neu, der Chronologie verpflichtet, in zahlreichen Episoden zusammen. Natürlich ist diese Lebensbeschreibung auch eine Selbstentblößung, eine Selbsterforschung, eine Wiederentdeckung eines Menschen, der er einmal war. Und es ist die Geschichte eines schüchternen Kindes, eines miserablen Schülers, der das Erzählen und Phantasieren lernte, und dessen Entwicklung zum literarisch Interessierten, schließlich zum kritischen Intellektuellen und Autor. Nicht zuletzt ist es auch ein eindringliches Plädoyer für die Macht der Wörter, ein eloquentes Lob des Lesens. "Beim Lesen habe ich alle Schauer und Abenteuer des Mich-Verirrens erlebt, weil ich Wörter, Anspielungen und ganze Absätze nicht verstand und das fehlende Verständnis durch Fantasie ergänzte - so wie ich es als Kind im wirklichen Leben gelernt hatte und nicht wenige Erwachsene es ihr ganzes Leben lang tun. Das Reisen und das Lesen haben sich häufig ergänzt, denn zahlreiche Länder habe ich erst anhand ihrer Literatur kennengelernt" An einer anderen Stelle heißt es: "Ich werde es mein ganzes Leben lieben, mich in Büchern zu verlieren. Es ist wunderbar, die innere Orientierung nicht mehr zu spüren, zu sehen, wie die Kompassnadel unserer Vorstellungswelt sich nicht mehr nach dem Pol orientiert und Prinzipien sich in nichts auflösen. Auch wenn ich weiß, dass es nur ein elektromagnetischer Lesesturm ist, der sich irgendwann legt, und dass die alte Vorstellungswelt dann wieder zum Vorschein kommt." Zum Vorschein kommt aber auch eine Chronik, die mehrere Jahrzehnte umgreifende Geschichte einer Familie, die lange in ärmlichsten Verhältnissen in Graz lebte. Es kommen zu Tage Lebenslügen, die Roth aber nicht philiströs echauffiert und auch nicht vorschnell demaskiert. Vielmehr beschreibt er sie ausführlich: die relative Untüchtigkeit seines Vaters, eines Arztes mit siebenbürgischen Vorfahren, der während des Studiums sich in nationalistischen Kreisen engagierte, was ihn zur Mitgliedschaft in der NSDAP führte, die ihm, dem nach 1945 wieder zum Staatenlosen Deklassierten, den Rest seines Lebens beruflich massiv schadete, der Opportunismus und die Lügen der Erwachsenen und deren affektive Unzulänglichkeiten. Roth setzt bei seiner Memorialsuche vor allem seinen Großeltern mütterlicher- wie väterlicherseits Piedestale. Ohne seine Großmutter hätte sich seine kindliche Phantasie nie am Erzählen entzündet. All dies schildert der 1942 geborene Roth in einer schlanken, genauen, federnden Sprache. Die Aufsplitterung in rund 140 Aufnahmen und Szenen, in deren Mittelpunkt seine ersten zwei Lebensjahrzehnte stehen, lässt die ausgreifende Darstellung mit ihren zahllosen genauen Beobachtungen eingängiger und zugänglicher, ja trotz des beträchtlichen Umfanges fesselnd erscheinen. So manches Detail erhält visuell eindringliches Gewicht und übersteigt so eine rein privatistische Darstellung. Dass allerdings der Wille zur Präzision endet, je näher Roth der Gegenwart kommt, ist bedauerlich. Es bleibt bei Skizzen über seine erste Frau wie auch bei einer sympathischen Miniatur über seinen Freund Wolfgang Bauer. In diesen Passagen führte ihm sichtlich die Dezenz die Feder. Dafür entschädigen die scharf konturierten Porträts Heimito von Doderers oder H. C. Artmanns. Roths Darstellung endet Mitte der sechziger Jahre. Der Aufbruch Ende der sechziger Jahre, der gesellschaftliche infolge der Studentenrevolte wie der politische Kurswechsel in Österreich im Zuge der Kanzlerschaften Bruno Kreiskys, bleiben unerwähnt. Ebenso die Veröffentlichung seines literarischen Debüts "die autobiographie des albert einstein", von dem nur en passant und recht lakonisch die unkonventionelle Entstehung geschildert wird - des Nachts, im Badezimmer schrieb es der Endzwanziger und dreifache Familienvater, der das Medizinstudium nach zehn Semestern abgebrochen hatte und in einem Rechenzentrum arbeitete. Wird eine deutsche Kritikerin Recht behalten, die diesen Band, für den Gerhard Roth seinen siebenteiligen Zyklus Der Orkus nach dem fünften Band unterbrach, bereits zu seinem besten Buch promovierte? Dies zu bejahen, ist keineswegs vermessen. Verglichen mit gewissen dramaturgischen wie inhaltlichen und psychologischen Schwächen einiger seiner jüngeren Romane ist Das Alphabet der Zeit, diese hochliterarische Historie eines Menschen und einer Stadt, ihnen ohne jeden Zweifel überlegen. Und ohne Zweifel auch dem Gros der österreichischen Gegenwartsliteratur.


Rezension


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Personen: Roth, Gerhard

Schlagwörter: Erinnerung Autobiografie

Roth, Gerhard:
¬Das¬ Alphabet der Zeit / Gerhard Roth. - Frankfurt a. M. : S. Fischer, 2007. - 817 S. : Ill.
ISBN 978-3-10-066060-2

Zugangsnummer: 597
Romane, Krimis, Erzählungen und Novellen - Signatur: DR Rot - Buch