Welsh, Renate
Mit einem Fuß auf zwei Beinen stehen
Buch

Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html); Autor: Reinhard Ehgartner; "Ich war unterwegs in der Mentergasse mit meiner Violine. Es begann zu regnen und zu stürmen. Eine Frau kam mir entgegen, ungefähr neunzig Jahre alt, auf einen Stock gestützt. Sie kämpfte gegen den Wind, blieb schwer atmend stehen und bat mich, ihr zu helfen. Es wären auch andere Leute da gewesen. Mich bat sie. Mich! Gern, sagte ich und nahm ihren Arm." Haynalka Kutka Die tiefe Freude, um etwas gebeten zu werden. Für die junge Frau Kutka ist dies ein so außergewöhnliches und schönes Erlebnis, dass diese kleine Episode im Geschehen einer Schreibwerkstatt nochmals aus der Erinnerung hervortritt und in Sprache umgewandelt wird. In der VinziRast-CortiHaus leben Menschen, die, um überleben zu können, um vieles zu bitten lernen mussten. Dieses Gefühl der Schwäche und Unterlegenheit wird als Verletzung durch das Leben getragen. Umso größer der Stolz, selber etwas erreichen und für andere sorgen zu können. "Seit zwanzig Jahren bin ich auf der Straße und habe bis heute in jeder Lebenslage meine Hunde durchgebracht und nicht verkauft. Darauf bin ich stolz. Und einen hab ich schon seit sieben Jahren." Erich Wögerer Kurze Texte wie die beiden zitierten sind es, die den Alltag der BewohnerInnen des VinziHauses aus der Anonymität von Sozialberichten herausholen und ihm Gesicht und Leben verleihen. Dass diese Texte so viel Kraft in sich tragen und bei ihrer Kürze doch so präzise Geschichten und Stimmungen einzufangen vermögen, hat neben dem Erfahrungsreichtum der Schreibenden noch einen zweiten Grund - und der heißt Renate Welsh. Diese Menschen, die in vielerlei Hinsicht vom Leben verletzt worden sind, sind es nicht gewöhnt, sich in Texten zu öffnen. Renate Welsh ist es gelungen, eine Situation des Vertrauens zu schaffen und mit den BewohnerInnen in unterschiedlichen Anläufen allgemeine Lebensthemen mit den eigenen Erfahrungen in Bezug zu bringen und sich damit schreibend zu öffnen. Von Grenzen ist die Rede und von Brücken, von der Wut und vom Weggehen oder Ankommen. Acht solcher Begriffe sind es geworden, die bei den Schreibenden etwas ausgelöst oder angestoßen haben und die dem Buch einen thematischen Leitfaden geben. Am Ende stehen biografische Notizen zu den AutorInnen sowie ein Nachwort von Renate Welsh. Eine Obdachloseneinrichtung in Meidling Die Bezeichnung VinziRast-CortiHaus erzählt vom Wesen und der Herkunft der Idee. Da ist zum einen der Verweis auf das 1993 in Graz-Eggenberg in der Pfarre Vinzenzkirche gegründete VinziDorf. In Wien übernahm Cecily Corti, Witwe von Axel Corti, die Leitung der Einrichtung. Von Privatpersonen und Firmen unterstützt, wird das 2004 gegründete Projekt von ehrenamtlichen MitarbeiterInnen getragen. Etwa 50 Menschen wird hier jede Nacht ein Bett, ein warmes Abendessen und ein Frühstück geboten. Was dieses Dach über dem Kopf und die vorbehaltlose Annahme bedeuten, kommt in den Texten mehrfach zum Ausdruck. Kein Mitleidsbuch, sondern Literatur Kurze Sätze, treffend, unverschnörkelt - bisweilen sinnierend, bisweilen poetisch, bisweilen mit unglaublicher Wucht. Brauchen Menschen, die auf verschiedenen Ebenen schmerzhaft mit ihrem Alltag ringen, eine Schreibwerkstatt? Wer in diesem Buch zu lesen beginnt, wird diese Frage nicht mehr stellen. Wenn es große Literatur vermag, das Leben zur Sprache zu bringen und die LeserInnen mit ihrem Denken und Fühlen in die Texte hereinzunehmen, so ist das große Literatur. Auch in Konzeption, Aufmachung und Layout bietet dieses Buch Herausragendes. In den zahlreichen Fotos von Aleksandra Pawloff wird das Alltägliche und das Individuelle der Vinzi-Rast-BewohnerInnen eingefangen. Ein Gesichtsausdruck, eine Geste, das Lebensumfeld - dieser künstlerische Blick verzichtet gänzlich auf Effekte und Klischees und kommt damit den Persönlichkeiten sehr nahe. Eindrucksvoll das Layout von Nele Steinborn. Ein schönes Buch - und in Zeiten undifferenzierter Sozialschmarotzer-Debatten zudem ausgesprochen wichtig.


Rezension


Dieses Medium ist verfügbar.

Personen: Welsh, Renate Pawloff, Aleksandra

Welsh, Renate:
Mit einem Fuß auf zwei Beinen stehen / Renate Welsh (Hg.). Texte aus der Schreibwerkstatt im VinziRast-CortiHaus. Mit Fotos von Aleksandra Pawloff. - Wien : Wiener Dom-Verl., 2013. - S. 157 : zahlr. Ill.
ISBN 978-3-85351-263-0

Zugangsnummer: 1532
Religion, Esoterik, Psychologie - Signatur: PR Wel - Buch