Quelle: Pool Feuilleton; Der klassische Städtetourismus gelangt immer mehr an seine Grenzen. Die Trampelpfade sind oft so verstopft, dass man Periskope ausfahren muss, will man jene Sehenswürdigkeiten sehen, die man ohnehin besser auf Wikipedia nachschlägt. Und der Mix an Sehenswürdigkeiten und Geschäften ist so international, dass man alle Strümpfe dieser Welt gesehen hat, wenn man in ein Strumpfgeschäft geht, und alle Museen der Welt kennt, wenn man eines dieser neuen Einheitsmuseen betreten hat. Erika Wimmer Mazohl nimmt die wohltuend ausscherende Serie "abseits der Pfade" zum Anlass, um der Stadt Meran jene Liebenswürdigkeiten abzuluchsen, die diese nur ihren Freunden und Gönnern zukommen lässt. So sind zwar die Villen und Promenaden das Markante, das Meran seit Jahrzehnten in den Prospekten vorzeigt, die Besonderheiten liegen aber in kleinen Gevierten, die auf einer Fußgänger-Karte ausgewiesen sind. Wer unbedingt auf Schloss Tirol will, sollte warten, bis die Einheimischen dort etwas machen, tagaus tagein nämlich wird dieses Objekt ansonsten niedergetrampelt. Für das Altstadt-Innere gilt die Unterscheidung zwischen deutschen und italienischen Lauben, die einen sind in die Kubatur eingebaut, die anderen kellerlos vorgelagert. (65) In der Laubengasse freilich sieht man die Lauben vor lauter Lauben nicht mehr. Über die Promenaden gilt es zu berichten, dass auf ihnen eigene Kur-Regularien herrschen. Das bekannteste ist jenes, wonach man nicht schlurfen und damit Staub aufwirbeln soll, der den Lungenkranken zu schaffen macht. Die Fügung "keinen Staub aufwirbeln" scheint sich freilich flächendeckend in die politische Seele Südtirols genagt zu haben. Solitäre Kultur kann nur dort entstehen, wo Persönlichkeiten mit Leib und Seele das Projekt in die Hand nehmen. So sind im Frauenmuseum tatsächlich die Frauen die Betreiberinnen und die übliche vitrinöse Kunst wird dadurch gesprengt, dass Philosophie, Gestaltung und ausgestellte Objekte weiblich sind. Ein Muss für jeden lesenden Menschen, der auch haptisch die Texte aufnimmt, ist die "Offizin S" von Siegfried Höllrigl. Der Inhaber ist nicht nur zu Fuß an den Bosporus gewandert und hat dabei die Langsamkeit entdeckt, seine Lettern-Maschine bewegt sich insgesamt in einer Geschwindigkeit, dass man mitlesen kann. Ein ähnlich entschleunigter Künstler und Performer ist Matthias Schönweger, der zum Beispiel eine Rutsche ins Nichts auf eine Geländekante gesetzt hat, wie man in anderen Orten Sprungschanzen ins Nichts baut. Vor den Toren der Altstadt liegen nicht nur Kur-Einrichtungen und Parcours, sondern etwa auch die Arbeitersiedlung in Sinich, die mindestens so viel Stoff und Ungerechtigkeit zu erzählen hat wie es sonst das polierte Getue im Sissi-Park tut. (167) Immer wieder sind Interviews eingestreut, die davon erzählen, wie Meran bei den Einheimischen tickt. Eine Literaturliste mit Raritäten abseits des Literatur-Kanons und empfehlenswerte Locations für Leib und Seele halten das Buch hinten zusammen. - Eine sympathische Einladung, sich selbst in Meran beim Lustwandeln zuzusehen. Helmuth Schönauer
Rezension
Personen: Wimmer Mazohl, Erika
Wimmer Mazohl, Erika:
Meran abseits der Pfade : eine etwas andere Reise durch die Stadt der Villen und Promenaden / Erika Wimmer Mazohl. - Wien : Braumüller, 2017. - 256 S. : Ill.
ISBN 978-3991002079
Reisen, regionale Geographie, Landeskunde - Signatur: EL Wim - Buch