Der an historische Fakten angelehnte Roman beschreibt das Leben des Brüderpaars Goncourt und ihrer Haushälterin. Er entwirft damit ein Sittenbild des ausgehenden Fin de siècle und zeigt zugleich die krasse Distanz zwischen den Klassen auf. (DR) Die Namensgeber des wichtigsten französischen Literaturpreises, Edmond und Jules de Goncourt, wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geboren. Ein reiches Erbe ermöglichte ihnen, sich ausschließlich ihren Interessen zu widmen. Die Brüder führten ein intensives Gesellschaftsleben, verkehrten mit Künstlern und Literaten und gingen bei der Prinzessin Mathilde, einer Nichte Napoleons, ein und aus. Die unzertrennlichen Brüder unternahmen alles gemeinsam, angeblich teilten sie sich sogar eine Geliebte. Berühmt wurden sie durch ihre Tagebücher, in denen sie freimütig über die Pariser Schickeria berichteten. Sulzer konzentriert sich zunächst ausführlich auf das letzte Lebensjahr des kaum vierzigjährigen Jules. Der einst vor Esprit und Einfallsreichtum sprühende Mann durchleidet das Endstadium der Syphilis und wäre ohne die liebevolle Fürsorge seines Bruders hilflos. Doch noch bevor Jules den letzten Atemzug tut, stirbt die Haushälterin Rose. Wie ein Roman im Roman entfaltet Sulzer nun das Leben der unscheinbaren Dienstbotin und ihre obsessive Liebe zu dem schönen Handschuhmacher Alexandre, der sie schamlos ausnützt. Als sie ihm alles Ersparte gegeben hat, macht sie Schulden und bestiehlt schließlich sogar ihre Arbeitgeber. Den beiden Adeligen entgeht trotz jahrzehntelangem Zusammenleben unter einem Dach die Tragödie ihrer Magd. Ihr Abgleiten in Alkoholismus, Krankheit und Verzweiflung nehmen die sonst so messerscharfen Beobachter gar nicht wahr. Sulzer macht mit eingestreuten Details aus der Alltagswelt wie nebenbei die Kluft zwischen Herren und Dienerin augenfällig. Zum Beispiel, dass Rose in aller Frühe die Öfen des prächtigen Hauses heizt und abends fürsorglich die Betten der Brüder vorwärmt, während sie selbst in der Dachkammer haust, die im Winter eisig ist und in der man es im Sommer vor Hitze kaum aushält. Die Gesellschaftsordnung wird von keinem der Protagonisten in Frage gestellt. Erst Emile Zola, ein früher Bewunderer des Romans »Germinie Lacerteux«, in dem die Goncourts ihrer Dienstbotin ein posthumes Denkmal gesetzt hatten, leitete mit seinen Werken ein Bewusstsein für die Ausbeutung der Arbeiterklasse ein. Sulzer fällt keine moralischen Urteile. Die Goncourts werden nicht als herzlose Despoten dargestellt und Rose nicht als tugendhafter Engel. »Doppelleben« kann ohne Übertreibung als literarisches Meisterwerk bezeichnet werden, spannend zu lesen und sehr beeindruckend.
Personen: Sulzer, Alain Claude
DR.H Sulze
Sulzer, Alain Claude:
Doppelleben : Roman / Alain Claude Sulzer. - Köln : Galiani Berlin, 2022. - 292 Seiten
ISBN 978-3-86971-249-9 Festeinband : EUR 23,70 (AT)
Historische Romane - Buch