Gstrein, Norbert
Als ich jung war Roman
Buch

Quelle: Literatur und Kritik; Autor: Rainer Moritz; Verschwiegene Geschichten Norbert Gstreins Roman »Als ich jung war« Kaum einer unter den deutschsprachigen Gegenwartsautoren versteht es so geschickt wie der 1961 in Tirol geborene Norbert Gstrein, das, was er erzählen möchte, zugleich mit dem zu verbinden, was die Voraussetzungen und (Un-)Möglichkeiten dieses Erzählens angeht. Auch in seinem neuesten Roman Als ich jung war, der fraglos einer seiner besten ist, lässt er keinen Zweifel daran, dass die »ganze Wahrheit« (so der Titel eines früheren Gstrein-Buches) zumindest in der Literatur nicht zu erlangen ist, ja, dass den selbstverständlichen Kausalitäten des Alltags zu misstrauen ist: »Solange die Sätze unverbunden nebeneinander standen, musste man sich hüten, Verbindungen herzustellen, man musste wissen, dass weil ein gefährliches Wort war, vielleicht das gefährlichste Wort überhaupt, zumal es nahelegte, man habe etwas verstanden, wo man vielleicht gar nichts verstanden hatte.« Exemplifiziert wird diese quasi erkenntnistheoretische Basis an Gstreins Ich-Erzähler Franz, der einer Tiroler Hoteliersfamilie entstammt. Diese hat sich darauf spezialisiert, Hochzeiten vor imposanter Kulisse auszurichten, und als der fünfzehnjährige Franz sein Taschengeld aufbessern möchte, nimmt er das Angebot seines Vaters an und fotografiert die glückseligen Brautpaare auf Almwiesen, vor Ruinen oder Felsschluchten. Als er, inzwischen längst Student, Jahre später noch einmal als Fotograf einspringt, ereignet sich ein Unglück: Die Braut, die bereits vor den Feierlichkeiten mit ihrem Zukünftigen in Streit geriet, wird am frühen Morgen mit gebrochenem Genick tot aufgefunden. Hat sie sich selbst in den Abgrund gestürzt? Oder hat ihr jemand einen tödlichen Stoß versetzt? Obwohl sich ein hochmotivierter Kommissar einmischt, bleibt der Fall ungelöst. Verdächtig sind viele, darunter die Freunde der Braut, die diese dem Brauchtum gemäß in der Hochzeitsnacht entführten. Auch Franz, der zur Tatzeit nicht in seinem Bett schlief, gerät ins Zwielicht. Schockiert von diesem Todesfall verlässt er seine Heimat und übersiedelt nach Jackson in Wyoming, wo er als Skilehrer in den Rocky Mountains zu arbeiten beginnt. Zu seinen Stammkunden wird der tschechische Raketenphysiker Jan Moravec, der ihn ins Herz schließt, ja, daran denkt, den jungen Österreicher zu adoptieren. Dreizehn Jahre hält sich Franz in den USA auf, bis ihn ein weiteres schreckliches Ereignis ereilt. Moravec setzt seinem Leben abrupt ein Ende, indem er, ohne einen Helm zu tragen, auf Skiern schnurstracks auf einen Baum zufährt. Danach verlässt Franz, nun siebenunddreißigjährig, Wyoming und kehrt in die Tiroler Berge zurück, wo sein Bruder mittlerweile das Hotel übernommen hat und beabsichtigt, das einträgliche Hochzeitsgeschäft wieder aufzunehmen, die düsteren Schatten der Vergangenheit ignorierend. Als ich jung war ist ein kom­plexes, kein kompliziertes Buch, das mehrere Geschichten miteinander verschränkt und zunehmend Zweifel sät, welchen dieser Geschichten zu trauen ist. Etliches bleibt im Dunkeln, und womöglich ist es gerade dieses Dunkel, das es auszuhalten gilt. Was zum Beispiel hat es mit Moravecs vermeintlichen pädophilen Neigungen auf sich? Was mit seiner Ehe, über die er nie ein Wort verlor? Was mit einem Missbrauch in Franz Jugend? Was mit der plötzlich verschwundenen Eileen, die er in einer Kneipe in Wyoming kennenlernte? Und was mit der sommersprossigen Sarah, die als Violinistin Karriere macht? Als sie dreizehn war, verliebte sich Franz bei einer der Hotelhochzeiten in sie und nötigte ihr bei einem nächtlichen Spaziergang einen Kuss auf ein harmlos scheinender Moment mit großen Folgen. Je weiter Gstreins Roman voranschreitet, desto mehr Erzählfäden hängen in der Luft, und bis zum Ende hin wartet man vergeblich darauf, dass diese miteinander verbunden werden. Denn da sind die Geschichten, die die Figuren bereitwillig preisgeben, und da ist das, was nicht ans Tageslicht soll: »Ich wusste im selben Moment, dass es sich noch ganz anders verhielt, als er behauptet hatte, nämlich dass nicht nur jeder Mensch, wenigstens eine Geschichte in seinem Leben hatte, von der er nicht wollte, dass jemand anderer sie zu hören bekam, sondern dass es auch Geschichten gab, die man nur erzählte, um andere Geschichten nicht erzählen zu müssen.« So führt der Titel des Gstreinschen Romans bewusst in die Irre. Als ich jung war ist keines jener aktuell so häufigen Erinnerungsbücher, die mit leichter Verklärung alte Automarken, Fernsehsendungen oder Schokoriegel heraufbeschwören. Hier denkt kein Bergbauernbub an schlimme oder schöne Kindheitstage zurück, nein, bei Gstrein erhält alles Erinnerte ein Fragezeichen, und was die Identität des Zurückschauenden ausmacht, bleibt in vielem ein Rätsel. Dass Als ich jung war dennoch keine wohlfeilen Gedankenspiele liefert, hat nicht zuletzt mit der Sprache dieses Romans zu tun, der rätselhafterweise nicht einmal auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2019 stand. Denn zweifelsohne zählt Norbert Gstrein zu den besten Stilisten hierzulande. Seine Prosa ist von großer Klarheit, bleibt schnörkellos, ohne in einen glanzlosen Minimalismus zu verfallen.


Rezension


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Personen: Gstrein, Norbert

Gstrein, Norbert:
Als ich jung war : Roman / Norbert Gstrein. - 1. Auflage. - München : Carl Hanser Verlag, 2019. - 348 Seiten
ISBN 978-3-446-26371-0

Zugangsnummer: 2851
Romane, Erzählungen, Novellen (dt.) - Signatur: DR Gst - Buch