Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html) Autor: Michael Wildauer; Dicht gedrängte Schicksale. (DR) Erich Hackl hat drei Geschichten zusammengestellt, geschrieben zwischen 2007 und 2013. In der ersten geht es um eine jüdische Familie, die vor den Nazis nach Brasilien flüchtet, um in der nächsten Generation von einer anderen Diktatur gefoltert zu werden. Die zweite handelt von dem in Auschwitz inhaftierten Wilhelm Brasse, der an die 50.000 Fotos machen musste für die Lagerverwaltung und dessen Bilder nach der Befreiung um die Welt gingen. Die dritte Geschichte erzählt das traurige Schicksal der Widerstandskämpferin Gisela Tschofenig. Der Titel des Buches klingt wie ein Untertitel. Wieso "tränenlos"? Die Geschichten sind alle von ungeheurer Tragik. Ist es (wie in der ersten Geschichte formuliert) "sehr tränenlos" im Sinne "ohne Wehmut, nichts wie weg, froh, das Zurückgelassene zurücklassen zu können"? Oder sind Tränen ein Zeichen von Kitsch, der Autor möchte aber ein Betroffensein erreichen, das (im Sinne Brechts) zu einem Überdenken der eigenen Denkmuster führen soll? Oder ist es, wie im Klappentext angekündigt, die nüchterne Erzählweise, die in der letzten Geschichte schon an Gefühlskälte grenzt? Hackl schreibt die für ihn erfundene Gattung "Schicksalsprotokolle". Diese literarisch-historischen Reportagen kann man mögen oder nicht. Dass der Autor sich von seinen Untersuchungsobjekten aber emotional nicht so distanziert, wie es in manchen Passagen erscheint, erkennt man an dem Aufwand, den er für seine Recherchen betreibt. ---- Quelle: Literatur und Kritik; Autor: Gerhard Zeillinger; Zwischenfrage Oder einfach dieses Interesse für Menschen Erich Hackls "Drei tränenlose Geschichten" Als ich Wilhelm Brasse, den Lagerfotograf von Auschwitz, im Herbst 2010 begegnete, trug er ein Buch Erich Hackls unterm Arm: Die Hochzeit von Auschwitz. Er hat es stolz auf den Tisch gelegt. "Das Hochzeitsfoto", höre ich Brasse heute noch sagen, "habe ich gemacht." Dabei kommt er in dem Buch gar nicht vor, ja, er wird nicht einmal als Fotograf genannt. Die Wahrheit ist: Als Erich Hackl Die Hochzeit von Auschwitz schrieb (das Buch erschien 2002), hat er von Wilhelm Brasse noch gar nichts gewusst und damals geglaubt, das Foto stamme von einem längst verstorbenen Häftling aus Wien. So haben auch Erzählungen, wie genau sie auch recherchiert sein mögen, ihre kleinen Irrtümer - glücklicherweise, muss man sagen, denn sonst hätte Erich Hackl wenige Jahre später nicht die Geschichte "Der Fotograf von Auschwitz" geschrieben und sie, umrahmt von zwei anderen Erzählungen, in diesem Buch wiedergegeben, einem wunderbaren Triptychon aus Zeitgeschichte und Poesie. In ihm steht der "Lagerfotograf" nun in jenem Mittelpunkt, den er, aber auch die Geschichte selbst verdient. Denn das Hochzeitsfoto, das Erich Hackl zu einem seiner besten Bücher veranlasst hat, ist "das einzige frohe, glückversprechende Foto aus Auschwitz", es hat den Autor, wie er schreibt, fünfzehn Jahre lang begleitet. Das klingt in der Tat wunderbar, umso mehr als in Auschwitz nur Negativbilder entstanden sind: Sie zeigen Angst und Verzweiflung, bebildern das Grauen, dokumentieren das Verbrechen. Das war der Arbeitsalltag von Brasse, dem Häftling Nr. 3444. Er hat die Opfer fotografieren müssen: ins Lager aufgenommene Häftlinge, die oft nur wenige Wochen gelebt haben, missgebildete Personen, Frauen und Kinder, an denen Mengele seine grausamen, pseudomedizinischen Versuche gemacht hat. Eines dieser Fotos kennt man heute auf der ganze Welt: Es zeigt vier Mädchen, zwei Zwillingsschwestern, dreizehn Jahre alt; nackt, erschrocken stehen sie da und wissen nicht, wie ihnen geschieht. Brasse hat viele solche Mädchen fotografiert und er erinnert sich in Erich Hackls Erzählung genau, wie sehr sich diese Mädchen geschämt haben, sich im Fotostudio nackt ausziehen zu müssen. Auch ihm sei das peinlich gewesen und so habe er einen Paravent aufgestellt, damit die Mädchen sich wenigstens unbeobachtet ausziehen konnten. Viel mehr hat er für sie nicht tun können. Brasse hat gewusst, dass die Mädchen anschließend in den Gaskammern ermordet wurden. Nicht anders hat es Wilhelm Brasse auch mir im Herbst 2010 erzählt, als ich das erste Mal in Auschwitz war, und so hat er es auch im Jahr darauf in seinen Lebenserinnerungen geschildert. Und so erzählt es Erich Hackl - genauso knapp, ohne dass ein Detail die Geschichte ausschmücken, ihr vielleicht eine noch eindrücklichere Nuance geben würde. Die Erzählung nimmt die Lebenserinnerung des alten Mannes auf, formt sie zu einem Stück Literatur und bleibt in jedem Wort authentisch, gültig wie ein Tatsachenbericht. Das gilt auch für die Figur Wilhelm Brasse, der bis zu seinem Tod im Jahr 2012 in Z.ywiec, nur 50 Kilometer entfernt von Os´wie¸cim, gelebt hat. Nach dem Krieg hat er wieder begonnen als Fotograf zu arbeiten, aber das ging nicht lange. Denn jedes Mal, wenn eine junge Frau zu ihm ins Studio kam und er durch den Sucher der Kamera blickte, sah er die nackten jüdischen Mädchen wieder. Brasse musste 1946 den Beruf wechseln. Aber auch diese Irritation, die immerhin auch sein Leben gebrochen hat, beschreibt Hackl sachlich und knapp, eigentlich so still, wie Brasses restliches Leben verlaufen ist. Ein Leben, das von der Scham der nackten Mädchen, "die wie ein Vorwurf auf ihm lastet", begleitet blieb. Trotzdem kommt da ein Wort wie "Fototäter" nicht vor, als hätte es in der Geschichte keinen Platz, als wäre Brasse am Ende nur jener Fotograf, der am 18. März 1944 das Hochzeitsfoto des Schutzhäftlings Rudi Friemel und seiner spanischen Frau Margarita Ferrer gemacht hat. Auf dem Foto, das unmittelbar nach der standesamtlichen Hochzeit aufgenommen wurde, sieht man auch deren gemeinsames Kind, drei Jahre alt, es sitzt genau in der Mitte. Neun Monate später wurde Rudolf Friemel, mit dem Brasse befreundet war, hingerichtet. Schnitt. Geschichte verliert sich nicht, sie hinterlässt Spuren, das zwanzigste Jahrhundert ist genau genommen ein sehr engläufiges Schnittmuster von Spuren. Aber es muss ihnen nachgegangen, die Bilder, die Lebenszeugnisse müssen gesammelt und ihre Fragmente nachträglich wieder zusammengefügt, nämlich erzählt werden, dann haben die Opfer plötzlich wieder ein Gesicht, eine Stimme. Erich Hackl ist nicht nur ein wunderbarer Erzähler, er ist einer der wenigen engagierten Autoren, die ihre Tätigkeit als Schriftsteller nicht der großen Fiktion Roman und damit viel einträglicheren Unternehmungen widmen, sondern diesen Spuren, den Spuren kleiner Leute, nachgehen und ihr Lebenswerk darauf beschränken ("beschränken" ganz im positiven Sinn!), den Opfern der Gewaltherrschaft ihre Geschichte zurückzugeben, sie sorgsam aus der Erinnerung und aus zeitgeschichtlichen Dokumenten zu heben, das heißt, all diese Geschichten genau recherchieren und mit dieser Gültigkeit erzählen. Nämlich so aufrichtig und wahr, dass sie auch nicht sentimental sein können. Im Ergebnis sind sie alle tränenlose Geschichten und die beiden anderen, die dieses Buch versammelt, sind eben solche wunderbaren Beispiele einer Lebenserforschung. In "Familie Klagsbrunn", die ihren Ausgang in einem Foto aus dem Jahr 1904 hat, begegnen uns mehrere Generationen einer jüdischen Großfamilie, deren Weg von Wien nach Südamerika, zurück nach Europa und wieder Südamerika führt. Auf die Flucht vor den Nazis folgt später die Repression durch die südamerikanischen Militärdiktaturen, als hätte sich das so eingeprägt, verfolgt zu werden, auch die Haltung des Widerstands: 1969 wird ein Enkel der Einwanderer als "Subversiver" verhaftet und gefoltert, in Brasilien hat gerade das Militär geputscht. Es heißt erneut Koffer packen (wir befinden uns in der zweiten Einwanderergeneration), erneut flüchten müssen: nach Chile, bis auch dort von den Rechten die Demokratie weggefegt wird. Der Satz "von Wien weg. Sehr tränenlos" ließe sich dreißig und mehr Jahre später mit derselben Sachlichkeit noch zweimal wiederholen. Das macht die Geschichte fast abstrakt, ohne ihr die persönliche Dimension zu nehmen. Von politischer Repression und vom Widerstand, der vor dem eigenen Leben keine Rücksicht nimmt, handelt auch die letzte Geschichte, das kurze Leben der Gisela Tschofenig, an die heute am Stadtrand von Linz immerhin ein Straßenschild erinnert. Immerhin. Aber wer fragt schon groß, warum ein "Tschofenigweg" so heißt, und wer nimmt die Geschichte wahr, wenn es nicht das dazugehörige Stück Literatur gibt? Erst Hackls Literatur erzählt: von der jungen Widerstandskämpferin, einer Mutter, die vor der Gestapo nicht zurückschreckt, die aufgrund ihrer Größe und doch eines nichtigen Anlasses wegen ihr Leben verliert. Hat das alles so kommen müssen, fragt der Leser. Mitten in dieser Literatur stehen unerhörte Sätze, die ihm den Atem nehmen: "Dein Kind siehst du nimmer", "wahrscheinlich hatte sie noch gelebt, als die Grube zugeschüttet worden war", oder "Zwischenfrage, was eigentlich aus ihren Schuhen geworden ist, was aus der Aufseherin, die sie sich in der Mordnacht angeeignet hat, wer hat diese Frau je zur Rechenschaft gezogen." - Das Unerhörte von Hackls Literatur ist die "Zwischenfrage" selbst, sie ist das struktur- und stilbildende Element seiner Texte. Sie wird nur gestellt, wenn nach Menschen gefragt wird, nach denen heute sonst keiner mehr fragt. In diesem Zusammenhang mag auch berühren, wie das Schicksal dieser Gisela Tschofenig auch später in der eigenen Familie eine problematische Nachgeschichte zur Folge gehabt hat. Alle diese drei Texte, entstanden zwischen 2007 und 2013, sind Kostbarkeiten, zeitgeschichtliche Dokumente und gleichzeitig ganz wunderbare Literatur, die von einem scheinbar banalen Anspruch geleitet wird, nämlich eine Geschichte so wiederzugeben, "wie ich sie gehört und in Erinnerung behalten habe". So sagt es Erich Hackl auf Seite 11 des Buches, in einem der seltenen Momente, in denen er als Erzähler hervortritt, um gleich danach wieder hinter der Geschichte zu verschwinden. So wäre auch von der Bescheidenheit des Erzählens und seiner Gültigkeit viel zu sagen. Oder reden wir noch einmal vom "Engagement". Wie kommt es, dass junge Autoren heute an solchen Geschichten vorbeigehen, dass sie viel lieber ihre eigene, oft sehr unreflektierte Wirklichkeit reflektieren? Unpolitische "Ich-Ich-Ich"-Geschichten, wie Erich Hackl das in einem aktuellen Interview angesprochen hat und die, wie er meint, letztlich dem Neoliberalismus geschuldet wären. Ein ebenso interessantes wie berechtigtes Argument. Aber glauben junge Autoren wirklich, dieser Ideologie etwas schulden zu müssen, um davon profitieren zu können? - Man könnte natürlich auch sagen: Mit Egoismus hat Schreiben doch immer zu tun. Warum aber bei Erich Hackl - und einigen wenigen anderen - nicht? Auf die Frage, ob er einmal etwas Autobiografisches schreiben würde, hat Erich Hackl gemeint, die anderen Menschen würden ihn mehr interessieren. Damit ist vielleicht auch - ganz simpel - erklärt, was seine Bücher so interessant und so gut macht.
Rezension
Personen: Hackl, Erich
Hackl, Erich:
Drei tränenlose Geschichten / Erich Hackl. - Zürich : Diogenes-Verl., 2014. - 153 S.
ISBN 978-3-257-06884-9
Romane, Erzählungen, Novellen (dt.) - Signatur: DR Hac - Buch