Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html) Autor: Maria Schmuckermair; Vom Mutterleib an belastet. (BO) Die Debatte im Publikum anlässlich der Präsentation dieses Buches im Linzer Stifterhaus war sehr emotional: Gibt es eine Macht des Blutes? Sind Adoptivkinder von einem anderen Planeten? Wie fühlt sich die entsetzliche Ohnmacht von Eltern an, die doch alles richtig machen wollten und trotz aller Fürsorge kaum erfolgreich waren? - Mit dem Handwerkszeug des Journalisten, der er viele Jahre lang war, hat Walter Kohl sich des Themas angenommen, das ihn ganz privat stark berührt. Akribisch hat er die Geschichte seiner Adoptivtochter, ihrer beiden leiblichen Schwestern, ihrer Mutter und ihrer Großmutter recherchiert. Die 1924 geborene Erna hat schwer bereut, das Kind von einem in Spanien inhaftierten Kriminellen überhaupt ausgetragen zu haben. Kein Wunder, dass die Beziehung zur Tochter Patricia von Anfang an enorm gestört ist. Als Patricia - "schwer erziehbar" bezeichnete man damals renitente Jugendliche wie sie - mit 16 Tanja bekommt, gibt sie sie zur Adoption frei. Auch die zweite Tochter, Iris, zieht sie nicht selbst auf. Und die dritte Tochter Tamara schmuggelt die schwer Heroinabhängige von Holland in einer Reisetasche nach Linz, lässt sie bei Großmutter Erna und haut nach Thailand ab. So kommt Tamara zu den Adoptiveltern Christiane und Walter Kohl, die sich sehnlichst ein Kind wünschen und ihm alle Liebe und Nähe geben wollen. Doch ihr Idealismus wird - zumindest oberflächlich gesehen - nicht belohnt. Tamara beginnt ab der Pubertät richtig schwierig zu werden, schwänzt die Schule, ist oft tagelang nicht auffindbar, Alkohol, Drogen, fremde Betten gehören zu ihrem Leben. Keines der gängigen Erziehungsmittel in Zusammenarbeit mit der Jugendwohlfahrt (Integrationsklasse, geschlossenes Heim, erlebnispädagogisches Abenteuercamp) bringt langfristigen Erfolg. Erst in letzter Zeit, nach fast 15 "wilden Jahren", scheint Tamara einigermaßen gefestigt zu sein. - Ein wesentliches, schmerzliches und absolut lesenswertes Buch! ---- Quelle: Literatur und Kritik; Autor: Gerhard Zeillinger; Am Beispiel einer schwierigen Lebensgeschichte Walter Kohls Rechercheliteratur "Mutter gesucht" Als Walter Kohl und seine Frau Christiane ihren Griechenlandurlaub abbrechen, weil in einem Linzer Kinderheim ein Baby zur Adoption ansteht, wird ihnen von der Behörde eigentlich abgeraten. Desolate Familienverhältnisse: die Mutter drogensüchtiger Teenager in Amsterdam, der Vater unbekannt. Walter Kohl und seine Frau haben Tamara trotzdem adoptiert. Das war 1984. Aber das ist nicht der Anfang der Geschichte. Da ist Patricia, Tamaras leibliche Mutter, und ihre traurige Kindheit und Jugend. Oder eigentlich: Da ist Erna, Tamaras Großmutter, aus dem Linzer Arbeitermilieu stammend, die sich 1960 von ihrem Mann trennt, weil sie von einem anderen schwanger ist. Der "andere" sitzt, als Patricia geboren wird, in Spanien im Gefängnis. Kein guter Anfang für eine Geschichte, die geradezu danach verlangt, erzählt zu werden. Und: keine einfache Handlung, auch wenn das Unglück, die Schwierigkeit der Lebenssituationen überschaubar scheint: Eine Mutter verlässt ihre drei Kinder. Die jüngste Tochter beginnt, als sie erwachsen ist, Mutter und Schwestern zu suchen. Die Geschichte entsteht, fast von selbst, könnte man meinen. Doch der Autor, der die Geschichte schreibt, der gleichzeitig der Adoptivvater von Tamara ist, weiß von Anfang an um die Problematik selbst einer gut recherchierbaren Story Bescheid: Wo liegt die Wahrheit, wie viele Versionen gibt es? Das eine ist Tamaras Geschichte, die der Autor ja selbst - und zwar leidvoll - miterlebt hat. Das andere sind die fremden Geschichten: die der beiden anderen Schwestern, der Mutter, der Großmutter, die Geschichte der Adoptionsfälle zwischen Linz und Amsterdam, Fürsorge und Jugendamt. Der Autor recherchiert Dokumente, führt Interviews mit den betreffenden Personen - und ist sich dennoch im Klaren, dass es niemals die "wahre" Geschichte gibt. "Letzten Endes führt jedes Erzählen, und sei es das um größte Wahrhaftigkeit bemühte Nacherzählen von tatsächlichen Sachverhalten oder Ereignissen, zu etwas Konstruiertem, das sich mit dem wahren Sachverhalt nicht deckt." Aber das eigentliche Problem ist viel persönlicherer, emotionaler Art. Denn als Ausgangspunkt steht die Überzeugung der Tochter, aller drei Töchter, das Entscheidende in ihrem Leben versäumt zu haben: "wenn wir bei der richtigen Mutter leben hätten können, dann wären wir glücklich, das trieb und treibt Patricias Töchter aus Amsterdam, Linz und Wien an." Natürlich ist es eine triste Geschichte, genauso eine pädagogische, eine, die versöhnlich enden will: Es ist immerhin das Recht des Autors und gleichzeitig Adoptivvaters, dass unterm Strich etwas Positives stehen bleibt, auch wenn es in dieser Geschichte lange nicht danach aussieht. Denn das Lebensunglück der Mutter, vom Heim für schwererziehbare Kinder bis zum Drogenmilieu in Amsterdam und Thailand, scheint sich bis zu einem bestimmten Grad auch auf ihre Töchter vererbt zu haben. Alle drei sind mehr oder weniger Problemkinder, ihr Heranwachsen wird für ihre Familien zur Grenzerfahrung. Das ist jener Teil der Geschichte, der auch den Erzähler zum direkt Betroffenen macht. Tamara ist die Jüngste. Sie ist in Amsterdam zur Welt gekommen. Patricia hat sie unmittelbar nach der Geburt in einer Reisetasche nach Linz gebracht und bei ihrer Mutter abgegeben. Erna, Tamaras Großmutter, sah sich bald überfordert und gab das wenige Monate alte Kind ins Heim. Es sind denkbar schlechte Startbedingungen für dieses Leben. Bei ihren Adoptiveltern kann Tamara endlich unter Bedingungen aufwachsen, die ihr eigentlich ein ganz normales, glückliches Leben ermöglichen, wohlbehütet in einer bürgerlichen Familie - bis die selbstzerstörerischen Pubertätsjahre beginnen, die ihre Eltern regelrecht in die Verzweiflung treiben. Als plötzlich die Gefahr akut wird, auch Tamara könnte in die Drogenszene abrutschen, verändert das auch das Selbstverständnis der Eltern: Eine Grenzerfahrung beginnt, die sie sich wohl in den dunkelsten Träumen nicht ausgemalt hätten. Nach einer Auseinandersetzung mit Tamaras Dealer und einem dadurch verursachten Polizeieinsatz, kulminiert der Konflikt: "Danach hockte ich im Auto und zitterte dermaßen, dass ich eine Weile nicht fahren konnte. Das bin nicht ich, hämmerte es in meinem Kopf, das bin nicht ich. Ich bin ein bürgerlicher Journalist bei einer konservativen Tageszeitung, mit Reihenhäuschen in der Vorortsiedlung. Ich bin kein Soziopath, der am helllichten Tag auf dem belebtesten Platz der Landeshauptstadt mit Drogendealern rauft." Es ist dieses Über-Grenzen-Gehen, das der Autor schließlich am eigenen Leib erfahren muss, über Jahre. Die Phase, wo Tamara immer wieder von zu Hause wegläuft, sich in kleinkriminelle Handlungen verstrickt, wo auch Behörden und Jugendpsychiatrie ratlos sind, wo in der Leidensfähigkeit der Eltern eine "endgültige Grenze" erreicht scheint, "die Grenze, jenseits der man hassen kann, was man liebt". Als Tamara dann auch noch beginnt, sich selbst zu verletzen, eröffnet sich neben Zorn, Wut und Hilflosigkeit endlich jene Sicht, in der die heranwachsende Tochter als das erscheint, was sie ist: "Ein unendlich verlassenes einsames Wesen, das sich gegen die Zumutungen seiner Existenz nur wehren konnte, indem es sich selbst verletzte." Ein Höhepunkt ist die Szene, als sie sich nackt auszieht und bei strömendem Regen vors Haus setzt: "Nichts als Scham, Scham, Scham habe ich gefühlt", sagt der Autor - umso mehr als es bereits um eine andere "Entblößtheit" geht, um das Sichtbarmachen der "Desolatheit dieser Familie". Es sind gewiss die stärksten Sätze im Buch, sie beschreiben eine geradezu unvorstellbare Ausnahmesituation, den Alptraum für Eltern schlechthin, die absolute Hilflosigkeit. Nach Jahren bessert sich die Situation: Tamara ist nicht auf die schiefe Bahn geraten, sie hat ihr Leben in den Griff bekommen, und eine wesentliche Sinnerfahrung liegt in der Suche nach ihrer leiblichen Mutter und ihren Geschwistern. Eine Herausforderung für sie ebenso wie für ihre Eltern, bei der niemand absehen konnte, ob die Begegnung gelingen würde. Für Walter Kohl war es eine doppelte Herausforderung, zuletzt die des Autors, die Geschichte zu erzählen, und das heißt, zunächst einmal zu organisieren. Man mag sich vorstellen, wie schwer das sein mag, als Mitbetroffener zu berichten, auch von jener Grenzerfahrung, die fast das eigene Leben aus der Bahn geworfen hätte. Umso bewundernswerter, wie abgeklärt und erzählerisch diszipliniert er an den Stoff herangeht, auch wenn es schwer gefallen sein muss, aus dieser Nähe herauszutreten, ist es doch auch sein Zweifel und sein Schmerz, den seine Adoptivtochter in sich trägt: "ungewollt und unerwünscht" zu sein. "Das kann ich nicht ertragen", sagt der Autor, "denn Tamara ist mein Kind, und mein Kind soll glücklich sein." Das Bemühen um Wahrhaftigkeit ist ein Beitrag dazu. "Mutter gesucht" ist nicht nur eine erfolgreiche Recherche, es ist auch ein bedeutsames Stück Literatur. Überzeugend, sachlich, unaufgeregt im Ton, ein schonungsloses und mutiges Buch, das einfach interessieren muss. Vor allem ist es souverän erzählt.
Rezension
Personen: Kohl, Walter
Kohl, Walter:
Mutter gesucht : die Geschichte dreier ungleicher Schwestern / Walter Kohl. - Wien : Zsolnay, 2012. - 301 S.
ISBN 978-3-552-05565-0
Romane, Erzählungen, Novellen (dt.) - Signatur: DR Koh - Buch