Golden Girls und dabei ganz sensibel. (DR) Die beiden Schwestern Josefa und Karla sind aufeinander und auch gegeneinander eingespielt, die Rollen wurden hier vor 80 Jahren verteilt und neidisch sind sie aufeinander wohl immer gewesen: die andere Schwester hat es immer besser gehabt, war stets die glücklichere. Nun leben sie wieder - verwitwet - miteinander. Schau- und Kampfplatz der Geschichte ist die elterliche Wohnung in Wien, der Friedhof wird für die beiden Frauen zum beliebten Ausflugsziel, Mittagessen und ein kleiner Flirt mit dem Kellner inbegriffen. Sie erkennen aneinander ihre zunehmenden Begrenzungen und Einschränkungen; jede Schwester will sich ihre Erinnerung an die Eltern, den Tod der Zwillingsbrüder bewahren. Die schriftliche Anfrage von Karlas amerikanischer Enkeltochter über den Austrofaschismus bzw. die NS-Zeit in Österreich rüttelt einerseits auf, blockiert und irritiert andererseits den Fluss der Alltagsrituale. Schulszenen tauchen bei den Protagonistinnen als Zeitdokumente aus der luftdicht verschlossenen Erinnerungskiste auf: sie, die kleinen Schulmädchen, haben das Unrecht empfunden und mit der Frau Jerusalem, der Deutschlehrerin, gelitten. Renate Welsh skizziert hier unwürdige Greisinnen - golden girls, sex in the city mit Seniorinnenticket. Körperliche Gebrechlichkeiten treffen hier auf einen wachen Geist, leichte Schwerhörigkeit ist gegen ein ausgeprägtes Sprachgefühl gesetzt, man bückt sich schwerer, kommt noch schwerer wieder in die Höhe, aber das hat keinen Einfluss auf die Erinnerungsfähigkeit, die Stringenz des Denkens. Noch bei so sicherem Verstand zu sein, entschädigt für zunehmende körperliche Einschränkungen wie Schwindelgefühle, Abnahme des Seh- und Hörvermögens, Gelenkstarre. Ich möchte zwar mit den beiden Schwestern nicht verwandt sein, aber für einen Kaffee mit ihnen hätte ich immer Zeit. Daher und das auch noch ganz objektiv: sehr zu empfehlen. *bn* Christina Gastager-Repolust
Personen: Welsh, Renate
Welsh, Renate:
Liebe Schwester : Roman / Renate Welsh. - 3. Aufl. - München : Deutscher Taschenbuch Verlag, 2003. - 255 S.
ISBN 978-3-423-24376-6
Romane, Erzählungen, Novellen (dt.) - Signatur: DR Wel - Buch