Nadja heißt die Ich-Erzählerin, eigentlich Nadeschda, ihre Mutter ist eine Russin, die viel von Ehrgeiz hält und Training und Anstrengung. Leistungssportlerin ist Nadja, weil sie zu Beginn der Grundschule „gesichtet“ wurde und deshalb – seit sie sechs Jahre alt ist – vom Turm springt, Vorwärts- und Rückwärtssprünge, Auerbach- und Handstandsprünge, von allen Höhen, auch von ganz oben, zehn Meter. Darum ist sie in die Sportschule gekommen, darum ist die Schwimmhalle mit dem Sprungbecken ihr Lebensmittelpunkt, wo sie all ihre Nachmittage verbringt, wenn „andere mit Freunden herumhingen, Eis aßen oder Musik hörten. Aber aßen sie wirklich Eis? Ich wusste es nicht. Ich hatte keine Ahnung, wie andere Jugendliche an anderen Schulen den Nachmittag verbrachten. Und ehrlich gesagt, interessierte es mich auch nicht.“ Sie ist Turmspringerin. So wie Karla auch, die zufällig in die gleiche Grundschulklasse gekommen ist und zufällig neben ihr zu sitzen kam, zufällig also ihre Freundin und – das war aber dann kein Zufall – auch gesichtet wurde. … „wir machten alles zusammen, und obwohl sie alles immer ein bisschen besser konnte als ich, hatte ich das Gefühl, dass sie mich brauchte und dass sie nur so gut war, weil ich da war“. Karla ist die Königin des Sprungturms. Das ist von Anfang an klar, der Trainerin, den VereinskollegInnen. Und den LeserInnen. Denen wird aber auch gleich gesagt, dass sie es am Ende nicht mehr sein wird. In jenem Herbst, der im Mittelpunkt des retrospektiv erzählten Romans steht, verändert sich viel: Karla, die ohnehin wortkarge, kühle Karla, wird noch schweigsamer, beginnt zu frieren und verliert ihre Perfektion: „ ‚Von zehn Sprüngen geht mir immer einer schief. Was ist das nur?‘ Ich lächelte Karla durch den Wasserstrahl hindurch an: ‚Das ist normal, Karla.‘ Darauf sagte sie nichts.“ Der schöne Alfons, auch Turmspringer, wird gesprächiger, vor allem Nadja gegenüber. Und die Erzählerin selbst? Sie macht sich Sorgen über ihren Busen, der zu wachsen beginnt, wenn auch nur ein klein wenig. Sie wird unruhig, auch weil sie einen Wettkampf gewinnt, wo doch immer Karla gewinnt. Sie kommt einem Geheimnis auf die Spur. Und lernt schlussendlich, dass beim Springen das Fallen am wichtigsten ist. Martina Wildner ist eine der interessantesten Autorinnen Deutschlands, sie probiert viel aus, unterschiedliche Erzählweisen, Genres, nicht immer gelingt alles perfekt, aber fast immer haben ihre Texte einen eigenen Ton. In „Königin des Sprungturms“ erzählt sie von Kindern, die früh in den Leistungssport abtauchen und damit in eine eigene Welt, der alles andere untergeordnet wird. Von einer sonderbaren Freundschaft, die wir Leserinnen so wenig verstehen wie die Erzählerin selbst. Vom Leben in engen Wohnungen in Hochhaussiedlungen und dem Willen, da rauszukommen. Und sie erzählt vom Sprung aus der Kindheit hinein in die Jugend. Wildner tut das unaufgeregt und ohne ihre Bilder überzustrapazieren. Sie braucht keine große Geschichte, ist nahe an den Figuren, ihren Verwerfungen und Sehnsüchten. Trotz – oder wegen – der kühlen Erzählerinnenstimme, die sich die Nähe der Leserinnen gleich zu Beginn durch direkte Ansprache sichert und trotzdem distanziert bleibt, kontrolliert. So tut, als ginge es immer nur um Karla, die Königin des Sprungturms. Dabei geht es um Nadja selbst. Die hat dann am Ende eine Freundin verloren, aber sie hat das Fallen gelernt: … „man muss in jeden Sprung sein ganzes Leben packen“. Dann wird er perfekt.
Personen: Wildner, Martina
Freundschaft
Wildner
Wildner, Martina:
Königin des Sprungturms : Roman / Martina Wildner. - Weinheim : Beltz und Gelberg, 2013. - 212 S.
ISBN 978-3-407-82027-3 fest geb. : ca. € 13,40
Freundschaft - Buch