Deutsche Geschichte aus der britischen Außenperspektive gesehen.
2014 zeigte das British Museum eine Ausstellung unter dem Titel: Germany, Memories of a Nation. Der damalige Museumsleiter Neil MacGregor wollte seinen Landsleuten Anstöße für ein Deutschlandbild geben, das über die Zeit des Nationalsozialismus hinausreicht. Parallel dazu gestaltete er eine von Millionen Hörern wahrgenommene Radioserie in der BBC. Sein Buch fasst beides zusammen. Es ist ein wohlwollender und verständnisvoller Blick von außen auf die seit 25 Jahren wiedervereinigte Nation, ein Blick, der auch für deutsche Leser ungemein inspirierend ist. Der gebürtige Schotte macht deutlich, dass Deutschland jahrhundertelang nicht in exakten nationalen Grenzen fassbar ist. Es konnte keine zentrale Hauptstadt ausbilden und umfasste ein riesiges Territorium, das allein durch eine gemeinsame Sprache und komplizierte, mühsam ausgehandelte Rechtsverträge zusammengehalten wurde. MacGregor hält das für eine Tradition, die auch das zähe, unendlich geduldige Verhandeln Angela Merkels innerhalb der EU erklärt. Den Briten und anderen westlichen Nationen ist zudem völlig fremd, welche dramatischen Veränderungen dieses Territorium erfahren hat. Eingehend widmet sich MacGregor den deutschen Universitäten in Prag, in Königsberg oder in Straßburg: historische Zentren deutschen Geisteslebens, die heute in anderen Staatsgebieten liegen. In dieser Vielfalt entdeckt der Autor aber auch Vorzüge, weil die verschiedenen Teile des historischen Deutschen Reiches immer untereinander und mit den angrenzenden Nachbarn einen intensiven Austausch pflegten. Auf der anderen Seite ruft es eine starke Unsicherheit hervor, über das, was nun wirklich deutsch sei. Umso unbegreiflicher bleibt es für den britischen Historiker, wie Deutschland sich einer dezidiert antipluralistischen, totalitären Machtstruktur wie dem Nationalsozialismus unterordnen konnte, die zudem alle humanistischen und toleranten Traditionen dieses Landes pervertierte. Besonders den Briten ist aber auch die Konsequenz, die Deutschland aus diesem Streben nach totalitärer Vorherrschaft, verbunden mit der Ermordung von Millionen jüdischer Menschen und der gnadenloser Verfolgung Andersdenkender, selbst tragen musste, kaum bewusst, so MacGregor. Er findet für die Vertreibung von etwa zwölf Millionen Deutschen aus den Ostgebieten einen mächtigen Vergleich: Für Großbritannien hätte eine solche Migration nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutet, nahezu die gesamte Einwohnerschaft der Commonwealth-Staaten Kanada und Australien aufzunehmen. - Die 600 Seiten dieses Werks sind wahrscheinlich die feinfühligsten und wohl auch anschaulichsten, die in jüngster Zeit über die deutsche Geschichte geschrieben wurden. Eine Bücherei, in der dieses auch außerordentlich opulent und klug illustrierte Buch fehlt, hat eine Lücke.
Personen: MacGregor, Neil
Leseror. Aufstellung: Geschichte → Dt. Geschichte
Ge 5 MacGr
MacGregor, Neil:
Deutschland : Erinnerungen einer Nation / Neil MacGregor. - München : Beck, 2015. - 640 S. : zahlr. Ill. (überw. farb.), Kt. ; 25 cm
Einheitssacht.: Germany, Memories of a Nation. - Aus dem Englischen von Klaus Binder
ISBN 978-3-406-67920-9 fest geb. : 39,95 EUR
Deutsche Geschichte - Buch