Eine Jugendliche erzählt authentisch und direkt vom Heranwachsen ohne Zukunftsperspektive in der österreichischen Provinz. (DR) Der neue Roman von Angela Lehner, der Gewinnerin des Rauriser Literaturpreises 2020, katapultiert die LeserInnen in die österreichische Provinz kurz nach der Jahrtausendwende. Wie in ihrem hochgelobten Debüt "Vater unser" ist eine nicht gerade sympathische Ich-Erzählerin am Wort. Julia lebt in Tal: "Kacke ist hier allgegenwärtig. Und selbst wenn unsere Stadt im Tourismusführer als Winterwonderland verkauft wird, weiß ich, dass das ganze Tal, die angezuckerten Berghänge, die riesigen Mehrfamilienhäuser […] und die Menschen in ihnen, in Wirklichkeit mit Kacke ausgestopft sind." (S. 7) In diesem Tonfall erzählt die 14-jährige Protagonistin aus ihrem Leben in ärmlichen Verhältnissen: Die Eltern sind abwesend, Julia und ihr Bruder bleiben sich selbst überlassen. Rückhalt finden sie in ihrer Crew: Man trifft sich regelmäßig, hört gemeinsam Hip Hop, trinkt und raucht. Dann heizt ein Experiment im Geschichteunterricht die Stimmung im Klassenzimmer auf: Konflikte der Weltpolitik schwappen in den Alltag der Taler Jugendlichen herein, lassen tief verwurzelte Ideologien und Fremdenhass zum Vorschein kommen und geben der Autorin eine Bühne für ihre Gesellschaftskritik. Nur Julia blendet all das aus, engagiert sich nicht in dem Geschichteprojekt, häuft Fehlstunden an. Und träumt naiv davon, endlich entdeckt zu werden und als Rapperin Karriere zu machen. Denn seien wir ehrlich: Eine Zukunft hat eine wie sie, die zur "zweiten Wahl", zum "Klumpert", gehört und nicht die hellste ist, ohnehin nicht. Zählt sie doch zum "Restmüll" in der Hauptschule, zu jenen SchülerInnen, die weder durch besondere Sportlichkeit glänzen noch für den Sprachenzweig taugen. Sie fällt tief und lernt mithilfe guter Freunde, dass auch sie, die von vorneherein Chancenlose, ein Recht auf eine Zukunftsperspektive hat. Lehner beherrscht den Jargon der Jugendlichen perfekt und legt eine gelungene Milieustudie voller Authentizität und Atmosphäre vor. Sogar eine Playlist wird mitgeliefert und ermöglicht es den LeserInnen hineinzuhören in die Songs, die Julia fast wie eine Rüstung vor sich herträgt, wenn sie rappt. Ein empfehlenswertes Stück Gegenwartsliteratur, das mit bissigen Kommentaren unterhält, prekäre Verhältnisse offenlegt und so manche Eigenart der österreichischen Gesellschaft entlarvt.
Personen: Lehner, Angela
Lehner, Angela:
2001 : Roman / Angela Lehner. - Berlin : Hanser Berlin, 2021. - 383 S.
ISBN 978-3-446-27106-7 fest geb. : EUR 24,00
Schöne Literatur - Signatur: Lehne - Buch