Frankfurter Poetikvorlesungen der bekannten deutschen Schriftstellerin im Mai 2022. (DD) Seit dem Wintersemester 1959/60 gibt es an der Frankfurter Goethe-Universität eine Gastpoetikdozentur. Jedes Semester befasst sich ein Autor, eine Autorin im Rahmen einer Vorlesungsreihe unter einem frei gewählten Titel mit Fragen der Produktion und Bedingungen von Poesie. Über die Jahre hat nach den ersten Vorlesungen Ingeborg Bachmanns die Crème de la Crème der deutschsprachigen Literatur Poetikvorlesungen gehalten. Im Mai 2022 war nach einigen coronabedingten Verschiebungen die Reihe an der Berliner Schriftstellerin Judith Hermann. Das von ihr gewählte Thema »Wir hätten uns alles gesagt. Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben« wird nicht in theoretischen Abhandlungen aufgegriffen. Sie geht vielmehr eher indirekt in autobiografischen Erzählungen darauf ein: Da ist zum Beispiel die Begegnung mit ihrem Psychoanalytiker zwei Jahre nach ihrer langjährigen Psychoanalyse. Oder ein Besuch bei der prägenden Frau ihrer Jugend im Berlin der 1990er Jahre. Da erfährt man die Lebens- und Sterbegeschichte eines gemeinsamen Freundes, der nach einem abgebrochenen Kunststudium und einer ersten Ausstellung viel zu jung an Multipler Sklerose verstarb. Da wird man in die Kindheit der Autorin, in eine Altbauwohnung in Berlin-Neukölln mit Stapeln von Büchern und Zeitungen, versetzt. Hier trifft man auf die schöne, alleinverdienende Mutter, den Mathematik und Physik studierenden depressiven Vater und die russisch-stämmige Großmutter väterlicherseits, mit der die Autorin schon als kleines Kind in das »Haus am Meer« fährt, das später im Berliner Freundeskreis ein fixer sommerlicher Treffpunkt wird. Im dritten Teil der Vorlesungen wird schließlich auf den ersten Pandemie-Winter Bezug genommen. Es werden die Erfahrungen der Autorin mit dem Umzug aufs Land und die Eingewöhnung in die neue Umgebung sowie das Schreiben unter anderen Bedingungen als im umtriebigen Berlin geschildert. In all diesen Erzählungen ent- und verschleiert Judith Hermann ihre Lebensgeschichte gleichermaßen. Gleichzeitig gibt sie mit der Anmerkung, dass sie Geschichten um einzelne Sätze herumbaue, für die, die genau zuhören, einen Einblick in ihre Arbeitsweise als Literatin, in der sie auch im scheinbar Persönlichen vieles verschleiert und verschweigt. Oder, wie ihr Psychoanalytiker zu Hermanns Erzählband »Lettipark« schrieb: »Was für eine unermüdliche Detailarbeit, alles so geschickt zu verfremden, zu entstellen, dass am Ende nichts mehr richtig ist, aber alles wahr«. An Poetik interessierten Leser*innen sehr zu empfehlen.
Personen: Hermann, Judith
Hermann, Judith:
Wir hätten uns alles gesagt / Judith Hermann. - Frankfurt am Main : S. FISCHER, 2023. - 186 Seiten
ISBN 978-3-10-397510-9 Festeinband : EUR 23,00
Schöne Literatur - Signatur: Herma - Buch