Hans-Jochem Gamm ist ein bedeutender deutscher Erziehungswissenschaftler, der zuletzt an der Uni Darmstadt lehrte. Einst Freiwilliger der deutschen Kriegsmarine, Leutnant der Infanterie, der später in polnische Kriegsgefangenschaft geriet, wurde er scharfer Kritiker des Nationalsozialismus. Seine Beschäftigung mit dem Judentum war, wie es Yuval Lapide im Vorwort schreibt, das Werk eines "umkehr- und rückkehrwilligen Christen". Gamms eigenes Vorwort skizziert die Absicht des Buches. "Zweitausend Jahre der Bewährung" werden dargestellt, "denn die Geschichte der christlich eingestimmten Völker ist zugleich die Epoche von Abgrenzung, Verfolgung und Vertreibung des Judentums … die jüdischen Einsprengsel innerhalb fremder Völker behielten ihre Lebensformen bei, beteten für das Erscheinen des Messias, der das Friedensreich von Jerusalem aufrichten sollte, während die christliche Majorität verkündete, der Messias sei längst in der Gestalt des Jesus von Nazareth erschienen und wer dies nicht erkenne, müsse blind oder verstockt sein." (9). Gamm spricht von einer "Kette von Entwürdigungen und Grausamkeiten (10)" während des 20. Jhs., konzentriert sich dann auf die Staatsgründung und ihre Folgen. Dies spiegelt sich im tatsächlichen Buchaufbau. In einem ersten kurzen Teil schildert Gamm das alte Israel bis zum "zerstreuten" Judentum, danach "Religion und Lebensformen", wozu die Heiligen Schriften, Talmud, Festkalender, Synagoge und Reinheitsvorschriften gehören. In Kapitel III widmet er sich dem ihm besonders bedeutsamen Thema Antisemitismus von der Antike bis in die Neuzeit. In Kapitel IV behandelt er das deutsche Judentum, in V den Staat Israel. Kapitel VI, VII und VIII widmen sich den sozialpsychologischen und pädagogischen Aufarbeitungen von Judenfeindschaft, vor allem in Deutschland. Angehängt sind Zeittafeln, Statistiken, so u.a. der Nobelpreisträger jüdischer Herkunft. Eine Beurteilung des Buches muss aus meiner Sicht Ebenen auseinanderhalten. Die erste Ebene betrifft das zutiefst zu achtende Anliegen einer Auseinandersetzung mit dem Phänomen Judentum als, wie es Lapide in seinem Vorwort nannte, "Judentumsentgiftung". Die zweite Ebene ist die inhaltliche. Die kurze, aber doch informative und engagierte Beschreibung von Antisemitismus, dem Leben der Juden in Deutschland und den pädagogischen Konsequenzen heute kontrastiert ein wenig mit dem viel zu kurzen Überblick über das Judentum und seine Religion. Hier werden ganze Epochen in wenigen Seiten behandelt, andere aber übersprungen oder nur gestreift. Unschärfen und wissenschaftlich problematische Aussagen liegen in der Natur einer solchen Kurzform, in der es nicht wirklich um eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Judentum als komplexes und in sich vielschichtiges Phänomen geht, sondern Gemeinsamkeiten und Kontinuitäten betont werden. Die Kurzbeschreibung von Religion und Lebensformen zeugt vom Bemühen kompaktester Information, die auch nicht schlecht gelungen ist, wenngleich die Schwerpunktsetzungen deutlich machen, dass hier aus einer christlichen Perspektive mit bestimmten Fragestellungen auf das Judentum geblickt wird (Stichwort Bedeutung des Messianismus etc.). Die letzte und zweifellos problematischste Ebene des Buches ist seine Tendenz, die Geschichte des Judentums in der Diaspora als beständig der Feindschaft ausgesetzt zu beschreiben. Diese "historia lacrimosa" blendet vollständig aus, dass Judentum nicht losgelöst von seiner Umgebung weiterentwickelt wurde und dass das Zusammenleben mit den Nichtjuden nicht ausschließlich negativ war. Die Neuauflage des Buches von 1998 mit einem unkritischen Vorwort von Yuval Lapide ist als Hommage an einen bedeutenden Pädagogen achtenswert. Gleichzeitig ist der Anspruch einer "Einführung" in das Judentum in diesem Buch damit heute nicht einzulösen und wirkt vielmehr unzeitgemäß und defizitär. Hier wäre es sinnvoll gewesen, eine kritische Vorrede mit einer historischen und kontextbezogenen Einordnung des Büchleins von Gamm mitzugeben und neuere Forschungsansätze und -fragestellungen zu ergänzen.
Personen: Gamm, Hans-Jochen
Standort: A.116
GE 1.1 Gamm
Gamm, Hans-Jochen:
¬Das¬ Judentum : eine Einführung / Hans-Jochen Gamm. - Frankfurt : Lit-Verl., 1979. - 184 S.
kart. : EUR 0
Geschichte Lexika;Geschichtswissenschaft allgemein - Buch