Schwerpunkt - von Ernst-Dieter Lantermann
Die radikalisierte Gesellschaft
Der Prozess der Radikalisierung ist eine Folge unterschiedlicher Wahrnehmungen von gesellschaftlichen Veränderungen. Der Beitrag zeigt auf, welche Faktoren radikale Verhaltensweisen, Stimmungen und Meinungen hervorrufen können. Die gegenseitige Beeinflussung gesellschaftlicher und individueller Veränderungssprozesse kann Radikalisierung begünstigen, beschleunigen und den Boden für Fanatismus jeglicher Couleur bereiten.
Die nicht enden wollende Coronakrise hat in ihrem Verlauf so manche gesellschaftlichen Strukturschwächen, Verwerfungen, Ungerechtigkeiten und Verunsicherungen ins grelle Licht des öffentlichen Bewusstseins gerückt, jedoch keineswegs hervorgebracht. Die anfängliche Angststarre, die gleichermaßen die verschiedenen gesellschaftlichen Milieus ergriff, führte zwar kurzfristig zu einer weitgehenden Verdrängung gesellschaftlicher Probleme und Konflikte, die viele Menschen als eine Bedrohung ihrer eigenen Existenz und Zukunft erlebten und über die in der Öffentlichkeit intensiv diskutiert wurde - nur einige Stichworte dazu: Klimakatastrophe, Digitalisierung, wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, Rassismus, Rechtsextremismus, Polarisierung, Gewalt, Vertrauensverlust gegenüber Staat und Unternehmen. Zu Beginn der Pandemie kreiste die öffentliche Debatte beinahe ausschließlich um diese neue, ganz konkrete Gefahr für Leib und Seele sowie um die Frage, welche Maßnahmen zur Überwindung dieser Krise ergriffen werden sollten. Man nahm billigend in Kauf, dass Gewohnheiten der alltäglichen Lebensführung eingeschränkt oder verboten wurden, in der Hoffnung, dass eine strenge Befolgung der von oben verordneten Maßnahmen schon zum Erfolg führen werde. Das Vertrauen in die Regierung erfuhr eine erstaunliche Renaissance nach Jahren wachsenden Misstrauens und Argwohns und zunehmend angezweifelter Legitimität der gesellschaftlichen Ordnung, der staatlichen Institutionen und deren Repräsentanten.
So paradox es klingen mag: Die Fixierung auf einen ganz konkreten "Feind", das Corona-Virus, sowie die dankbar akzeptierte Rolle des Staates als sorgende Autorität, der man sich ohne Vorbehalt anvertrauen darf, erlebten viele Menschen als beruhigende Atempause im alltäglichen Kampf um ihre eigene Souveränität in einer sonst so unübersichtlichen, unberechenbaren und unsicheren Welt. Man wusste endlich wieder, was zu tun ist, wo der Feind steht und dass man nicht alleingelassen wird im alltäglichen Kampf um Gesundheit und Leben.
Dieser "Sicherheitsgewinn" hielt jedoch nicht lange vor. Nachdem die von oben verordnete Strategie offensichtlich zu wirken begann und damit die Ängste und Sorgen um die Gesundheit wieder ab-, die Kritik an den Maßnahmen zunahmen, gerieten die für kurze Zeit ausgeblendeten Ängste, Aggressionen, Verunsicherungen, Desorientierungen, Stigmatisierungen und Kränkungen, Ohnmachts- und Kontrollverlust-Erfahrungen umso vehementer ins Zentrum der privaten wie öffentlichen Aufmerksamkeit zurück.
Aus dem Inhalt:
Bildung zum Widerstand - widerständige Bildung
Umgang mit Radikalisierungsphänomenen
Wenn alle Moslems Terroristen sind
Sag was! ... aber wann und wie?
Rassismuskritische Bildungsarbeit
Was ist eigentlich Antisemitismus?
Von konstruktiver und destruktiver Empörung
Medium erhältlich in:
Serie / Reihe: Ethik & Unterricht 4
Personen: Rollfing, Hubertus
Z/Sek/EU 04/20
Rollfing, Hubertus:
Radikalisierung - Ausgabe 4/2020. - 1. Auflage. - Berlin : Diesterweg, 2020. - 56 Seiten : Illustrationen; Farbfotos ; Din A4. - (Ethik & Unterricht; 4)
ISSN 09367772 geheftet : 18,50 EUR
Zeitschrift Ethik & Unterricht - Zeitschriftenheft