Dörner, Klaus
Evangelische Theologie: Überblick über die gesellschaftlichen Aspekte der Reproduktionsmedizin

Der Beitrag versucht, seine Funktion, der Gesamtdiskussion dieser Tagung zu dienen, dadurch wahrzunehmen, dass er sich auf zwei eher vernachlässigte gesellschaftsrelevante Aspekte der Reproduktionsmedizin beschränkt: es ist dies - mehr methodisch - die geschichtswissenschaftliche Sichtweise sowie - mehr materiell - der Nachweis, dass die Reproduktionsmedizin und damit auch die Teilnehmer dieser Tagung zugleich auch Teilnehmer des Behinderten-Diskurses in Deutschland sind. Es wird die Rolle der Behinderten bei der Konstituierung der Moderne im 19. Jahrhundert (ihre Institutionalisierung) beschrieben, was zu zwei gegenläufigen Reaktionen führte; einmal ab 1890 zu den zwei endgültigen Strategien zur Abwehr der Behinderten; der Eugenik und Euthanasie, die man daher - historisch korrekt - auch heute noch so nennen muss; zum anderen ab 1945 zu den zwei (endgültigen?) Integrationsstrategien der Behinderten, der Deinstitutionalisierung und der Behindertenselbsthilfebewegung. Mit der letzteren machen sich die Behinderten selbst zu Subjekten und damit gleichberechtigten Teilnehmern des Behinderten-Diskurses der Gesellschaft, durchaus analog zur Arbeiter- und zur Frauenbewegung. Aus diesen Tatsachen werden einige Konsequenzen für die Reproduktionsmedizin, insbesondere für die Beziehung zwischen Müttern bzw. Ärzten und Kindern, Föten oder Embryonen mit Behinderung gezogen und gefragt, a) wieso sich ein Behinderter von der Tötung eines behinderten Embryos gekränkt fühlen muss; b) in welcher Weise sich heutige medizinethische Bewertungen der Reproduktionsmedizin als einseitig-fundamentalistisch erweisen, vor allem wenn unsere europäische Denktradition - historisch korrekt - vollständig und daher als schon immer pluralistisch berücksichtigt wird; c) warum - nach Überschreiten der Technik-Begeisterungshalbwertzeit - im Rahmen fortpflanzungsmedizinischer Gesetzgebung die In-vitro-Fertilisation neu zu überprüfen ist; d) wie dem Übermaß der Leiden schwangerer Frauen an der Pränataldiagnostik Rechnung zu tragen ist; und e) weshalb anlässlich der Präimplantationsdiagnostik Ärzte in ihrer gegenwärtigen Neigung, Wünsche von Patienten über ihr Wohl und über das Tötungsverbot zu stellen, sich zum Befehl zu machen und in ihrer Neigung, das Selbstbestimmungsrecht der Patienten zur Entlastung von eigener Verantwortung zu instrumentalisieren, möglicherweise vom Gesetzgeber gegen sich selbst zu schützen sind.


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Personen: Dörner, Klaus

Schlagwörter: Reproduktionsmedizin Gentechnologie Menschenwürde Genetik Theologische Ethik Christliche Ethik Sozialethik Referat Rechtsphilosophie Medizinische Ethik Auslese Humangenetik Biotechniken Sozialphilosophie Behinderter

Dörner, Klaus:
Evangelische Theologie: Überblick über die gesellschaftlichen Aspekte der Reproduktionsmedizin / Klaus Dörner. - 61, 2001. - S.49-55
Einheitssacht.: Menschenwürde und biotechnischer Fortschritt im Horizont theologischer und sozialethischer Erwägungen

Zugangsnummer: 2011/1071