Die Chronik einer Nacht als Rückblick auf die Lebensgeschichte des Ich-Erzählers. (DR) Ein Soldat versieht seinen Dienst allein auf einem Wachturm an einer Grenze. Es ist ein brutaler und zugleich magischer Ort, an dem der Ich-Erzähler die vielen Grenzerfahrungen seines Lebens reflektiert. Die Erzählung ist raffiniert und doppelbödig aufgebaut wie eine Blackbox: Externe Signale - wie aufgeschreckte flatternde Vögel, unheimliche Stille, beunruhigende Dunkelheit schon am Beginn des Wachdienstes - verdichten sich von Stunde zu Stunde. Vom Eingangskapitel um 19 Uhr am Abend bis zum Schlusskapitel um 6 Uhr in der Früh werden Reaktionen und Verhaltensweisen eines Mannes in Zeiten von Verwerfungen, Umbrüchen und diffusen Ängsten minutiös widergespiegelt. Die nächtlichen Eindrücke des Grenzsoldaten vermischen sich während der Wache mit persönlichen Erinnerungen. Solche Flashbacks treten blitzartig durch Schlüsselreize auf und rufen ein Wiedererleben hervor. Im konkreten Fall sind es Nachhallerinnerungen an eine unerfüllte Liebe, einen ungeklärten Mord und eine spannende Spurensuche. Diese Rückblenden reaktivieren schließlich ein bestimmtes Verhalten, als er in Anbetracht der Flüchtlinge vor der Entscheidung steht, dem Schießbefehl Folge zu leisten oder nicht. Es wird nicht nur die auf eine Nacht komprimierte Lebensgeschichte eines Mannes beispielhaft erzählt, sondern auch gleichnishaft erfahrbar gemacht, dass "all die Nacht über uns" im Spannungsfeld von Glück und Zerrüttung, Schuld und Sühne, Gehorsam und Widerstand über jedes Menschenleben hereinbrechen kann. Ein Buch, das die Flucht als menschliche Grunderfahrung und parallel dazu die engagierte Mitmenschlichkeit als Licht in der Dunkelheit thematisiert. Die sprachgewaltige Erzählweise, die einfühlsamen wie prägnanten Beschreibungen und die im Stundentakt immer weiter steigende Spannung machen diese Lektüre zu einem eindringlichen Leseerlebnis.
Personen: Jäger, Gerhard
SL Jäge
Jäger, Gerhard:
All die Nacht über uns : Roman / Gerhard Jäger. - Wien : Picus-Verl., 2018. - 237 S.
ISBN 978-3-7117-2064-1 Festeinband : ca. € 22,00
Schöne Literatur - Buch