Weiterleben, wenn das Schlimmste passiert; Emotionale, packende Geschichte über vier Charaktere, die einander in den Bombennächten von London im Jahr 1940 zur Seite stehen. (ab 14) (JE) »Einer von uns stirbt, aber darum geht es nicht. Es änderte alles, das schon. Aber es geht darum, dass drei von uns weiterleben. Wir sind noch da. Unser Leben fängt gerade erst an.« (S. 5) Mit dieser Hiobsbotschaft involviert die preisgekrönte Autorin ihre Leser;innen im Handumdrehen ins historische Handlungsgeschehen der folgenden Seiten: London, 1940. Jede Nacht Fliegeralarm. Bomben, die Tod und Verwüstung bringen. Und auch jene mit Verlust konfrontieren, die erst am Beginn ihres Lebens stehen. Gemeinsam mit ihrem neunjährigen Bruder steht die Ich-Erzählerin Ella in der Schlange vor dem U-Bahnhof an, um ihrer Familie dort einen Schlafplatz zu sichern. In dem beengenden Tunnel, in dem sie mit hunderten anderen Schutz suchen, ist sie wieder da, die Erinnerung an das beklemmende Gefühl in der Eisernen Lunge, in der sie nach ihrer Polioerkrankung Todesangst ausstand. Wir begleiten Ella, das Mädchen mit dem verkrüppelten Bein, das statt Socken zu stricken lieber ihr Notizheft mit Worten füllt, um sich eine andere Zukunft zu erdichten. Das sich danach sehnt, endlich wieder »in Farbe« gesehen zu werden ; und zwar nicht wegen ihres Hinkens. Dann treffen Ella und Robbie den verwegenen Jay, der aus dem völlig zerstörten East End kommt und sich mit Gaunereien durchzuschlagen weiß, und die rebellische Quinn, die lieber den Wohlstand und die Konventionen des adeligen Elternhauses hinter sich lässt, um im Krankenhaus zu helfen. Zu viert erleben sie die »Nächte im Tunnel«, vertrauen sich einander an. Und Ella spürt mehr und mehr: Sie will die Angst zurücklassen und nicht mehr nur auf dem Papier leben. Krieg, zerstörte Häuser, die Folgen einer ansteckenden Krankheit, der Kampf um Gleichberechtigung vieles davon ist aktueller denn je. Anna Woltz, bekannt durch ihren mit dem Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichneten Roman »Gips«, klammert das Schwierige, Schwere im Leben nicht aus, sondern nimmt es herein in ihre Bücher, genauso wie es ein Teil unseres Daseins ist. Ihre Kunst ist es, dabei so aufrichtig und echt über die Gefühle der jugendlichen Figuren zu schreiben, dass man ihr jede Zeile abnimmt, mitfiebert, mitfürchtet und ganz und gar in die fesselnde, emotionale Geschichte, die von Andrea Kluitmann mit viel Gespür ins Deutsche übertragen wurde und ein sehr hohes Spannungslevel aufweist, hineinfällt. Ganz nah rückt die beängstigende Stimmung während der Bombardements beim Lesen heran. Und doch ist es vor allem ein Buch über das Erwachsenwerden und Über-sich-Hinauswachsen. Es erzählt vom Wunsch, das Leben ganz auszukosten und die Welt ein Stück weit nach den eigenen Vorstellungen zu verändern, sie lebenswerter zu machen und gegen die einengenden Schranken in den Köpfen der Menschen anzukämpfen. Preisverdächtig und so, so gut geschrieben.
Personen: Woltz, Anna Kluitmann, Andrea
Ju3 Wol
Woltz, Anna:
Nächte im Tunnel / Anna Woltz ; aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann. - Hamburg : Carlsen, 2022. - 221 Seiten
ISBN 978-3-551-58474-8 Festeinband : 16,50 (AT)
Erzählungen ab 13 Jahre - Buch